Stinkhütt“, Rotfabrik und der gesamte Kosmos der Zementproduktion
VDI nachrichten, Wehrheim, 29. 8. 08, cha – Ihre Namen existieren noch, auch wenn die Firmen Albert, Dyckerhoff und Kalle teilweise in internationalen Konzernen aufgegangen sind. Gegründet im 19. Jahrhundert am Rheinufer bei Wiesbaden, waren alle drei Traditionsunternehmen für die gesamte Region prägend. Eine Ausstellung im Wiesbadener Stadtarchiv spürt nun ihrer Geschichte nach.
Wer kennt das praktische Schwammtuch der Firma Kalle nicht? Seit Jahrzehnten gehört es zum unverzichtbaren Helfer im Haushalt. Gleich am Eingang des Stadtarchivs Wiesbaden liegt das saugfähige, geriffelte Tuch aus Cellulose und Baumwollfasern zum Mitnehmen aus. Nicht unifarben wie üblich, sondern bedruckt mit den wichtigsten Infos der Ausstellung „Das Jahrhundert der Gründer – Wirken mit Zukunft“. Eine witzige Idee für die kleine, feine Schau, die der großen Geschichte dreier Industriebetriebe und ihrer Gründer gewidmet ist sowie deren Produktion von Farben, Dünger, Arzneimitteln, Zement, Cellophan und Wursthüllen.
Albert, Dyckerhoff und Kalle, so die Namen der Gründer, deren respektheischende Porträts in Öl von der Wand blicken. Sie alle siedelten ihre Familienunternehmen am Wasserverkehrsweg Rhein im heutigen Wiesbaden-Biebrich und Mainz-Amöneburg an. Schnell entwickelten sie sich zu expandierenden, international agierenden Industriebetrieben.
Anlass für die Ausstellung ist das 150-jährige Jubiläum der Leim- und Düngemittelfabrik Albert, die 1858 von Apotheker Heinrich Albert am Rhein gegründet wurde und die im Volksmund als „Stinkhütt“ verschrien war. Denn der Firmengründer fabrizierte Düngemittel „von großem Gestank“ aus einer Mischung wollener Lumpen, Horn, Klauen, Leder und Haaren, die er in konzentrierter Schwefelsäure auflöste. Bald fand er Ersatzstoffe wie Phosphorit von der Lahn zur Verbesserung des Superphosphats. 1863 folgte am Rheinufer Gustav Dyckerhoff mit seiner Zementfabrik, in die kurz darauf auch seine Söhne eintraten. Und ein Jahr später kam das Unternehmen von Wilhelm Kalle zunächst mit der Produktion von Anilin-Farben hinzu.
Diese Industriebetriebe prägten die Wirtschaft der Region im 19. und 20. Jahrhundert ganz entscheidend. Mittlerweile von internationalen Konzernen übernommen, säumen die riesigen Werke nach wie vor kilometerweit das Biebricher und Amöneburger Rheinufer. Als reicher Fundus für die Ausstellung erwiesen sich ihre dem Stadtarchiv übergebenen großen Werksarchive, von denen das Dyckerhoff“sche mit 600 Kartons erst jüngst hinzukam. Dessen Bestände sind zwar noch nicht ganz erfasst, aber der alphabetisch aufgebauten Dyckerhoff-Schau tut dies keinen Abbruch.
Ob Baustoffkunde des Zements, für den sogar ein „Reinheitsgebot“ aufgestellt wurde, ob Technik der ersten Ringöfen und Funktionsweise der Zementmühlen, ob Verpackung vom Fass bis zum Papiersack und Transportmittel wie den ersten Silowagen: Von A wie Anfänge bis Z wie Zementbuch wird der „gesamte Kosmos der Zementproduktion“ angerissen – und teils mit hervorragender Industriefotografie namhafter Fotografen dokumentiert.
Das Unternehmen Albert, dessen Thomasmehl (Dünger) ab 1884 reißenden Absatz fand, wird vor allem mit zahlreichen historischen Werberaritäten für Düngemittel vorgestellt – ab den 1920er Jahren kamen Arzneimittel dazu.
Vom Fabrikgeschehen bei Kalle um 1900 entsteht ein sehr lebendiges Bild. Denn vom Füllraum bis zur Schiffsverladung kam alles vor die Linse. Die Herstellung des Farbstoffs „Biebricher Scharlach“ 1879, dem ersten sekundären Diazofarbstoff, brachte dem Werk den Namen „Rotfabrik“ ein. Wenig später expandierte der Farbenhersteller in den Pharmabereich, um in den 1920er Jahren auf Diazo-Lichtpauspapiere, Cellophan und nahtlose Kunstdärme umzusatteln.
Neben den allseits bekannten Schwammtüchern – ab 2008 in zerkleinerter Form als Ölbinder zugelassen – produziert Kalle heute Wursthüllen für die Fleischindustrie. Transparent, durchsichtig, robust, hauchzart, rau-matt, glänzend, eckig, rund oder bedruckt: Der Branchenfremde staunt angesichts der ausgestellten Wurstattrappen über die kulturell bedingten Vorlieben für Wurstformen, -muster und -farben. So mögen die Amerikaner die Wurst eckig.
1925 schloss sich Kalle der IG Farbenindustrie an und wurde nach dem zweiten Weltkrieg nach dessen Auflösung wieder ein eigenständiges Unternehmen. 1972 wurden die beiden Werke Kalle und Albert in die Farbwerke Hoechst eingegliedert und 1989 zusammengelegt. Durch die Umstrukturierungen der Hoechst AG entstand anknüpfend an den eingeprägten Firmennamen der Industriepark Kalle-Albert, der von Infraserv Wiesbaden betrieben wird. CARLA REGGE
„Das Jahrhundert der Gründer – Wirken mit Zukunft“ bis 14. 9. 08 im Stadtarchiv Wiesbaden, Im Rad 42, 65197 Wiesbaden, Tel: 0611/313219, Mo-Fr 8 bis 16 Uhr, Mi 8 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung.
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