Spezialisten für heißen Abriss sind sehr gefragt
VDI nachrichten, Greifswald, 4. 6. 04 -Während in diesen Tagen aus den neuen deutschen Bundesländern meist trübe Wirtschafts-Nachrichten kommen, hat zumindest ein – überwiegend von Ingenieuren geprägtes – Unternehmen dort erfolgreich die ökonomische Wende gemeistert
Die Energiewerke Nord aus Rubenow bei Greifswald, die 1990 aus dem DDR-Kombinat „Kernkraftwerke Bruno Leuschner“ hervorgingen, haben sich binnen weniger Jahre zu einem der weltweit führenden Spezialisten für den Rückbau von technisch veralteten Kernkraftwerken und der sicheren Entsorgung und Lagerung von radioaktiven Stoffen entwickelt.
1990 wurde das Unternehmen in „Energiewerke Nord“ umbenannt und erhielt von der Treuhandanstalt sowie der Bundesregierung den Auftrag, die beiden Kernkraftwerke Rheinsberg (ab 1967 mit 70 MW am Netz) und Greifswald (ab 1973 mit 1760 MW in Betrieb) stillzulegen. Denn die beiden Druckwasser-Reaktoren sowjetischer Bauart entsprachen nicht länger den strengen technisch-wissenschaftlichen Sicherheitsanforderungen.
Die anspruchsvolle Rückbau-Aufgabe, die man sich als Baustelle mit umgekehrtem Vorzeichen vorstellen muss, konnte aus verwaltungstechnischen und juristischen Gründen erst ab 1995 in die Tat umgesetzt werden. „Inzwischen haben wir rund 50 % unserer Leistung erbracht,“ zieht Geschäftsführer Dieter Rittscher eine Zwischenbilanz. Die Arbeit in diesem Geschäftsfeld werde noch bis 2010 weitergehen.
Die weltweit erste serielle Demontage dieses russischen Reaktortyps erforderte drei Zerlegeschritte: Im sogenannten Nasszerlegebereich werden die hoch radioaktiven Teile unter Wasser auseinander gebaut mittels Bandsäge, Plasmaschneider und einem speziellen CAMC-Verfahren („Contact Arc Metal Cutting“). Im Trockenzerlegebereich bearbeiten Ingenieure und Techniker die weniger strahlenden Teile. Hier finden überwiegend Bandsäge und Brennschneider Verwendung. Der Reaktorschacht schließlich wird teilweise manuell oder mittels Seilsäge zerlegt.
Doch mit der Demontage eines Kernkraftwerkes ist die Arbeit nicht beendet: Um die mehr als 5000 Brennstäbe und weitere radioaktiv kontaminierte Materialien sicher zu lagern, wurde 1992 in der Nähe von Greifswald ein Zwischenlager Nord aufgebaut. Auf einer Fläche von 20 000 m2 ist dort die strahlende Hinterlassenschaft für die nächsten Jahrzehnte in Castor-Spezialbehältern deponiert.
Mit der zunehmenden Spezialisierung im Bereich Atomenergie wachsen für das ostdeutsche Unternehmen auch die Chancen, weitere Aufträge an Land zu ziehen. Bei den Energiewerken Nord setzt man daher mittelfristig auf Verträge über den Rückbau weiterer veralteter AKWs in Deutschland, etwa Stade in Norddeutschland.
Das vergangene Jahr markierte einen wichtigen Einschnitt in der Firmengeschichte: Erstmals wurde mit dem Forschungsreaktor in Jülich eine kerntechnische Anlage in den alten Bundesländern übernommen. Der Reaktor wird nun dort in einem Zwischenlager gesichert.
Zwar kam das ehemals Volkseigene Kombinat nicht um eine deutliche Reduktion der Mitarbeiterzahlen herum, nachdem der Transformationsprozess vom Sozialismus in den Kapitalismus abgeschlossen war. Von gut 5500 im Jahr 1990 auf heute noch rund 1450 (darunter rund 500 Ingenieure) sank die Zahl der Beschäftigten in knapp anderthalb Jahrzehnten bei einem jährlichen Umsatz von 200 Mio. €. Doch die Anpassung und das Erschließen neuer Geschäftsfelder sind offensichtlich der richtige ökonomische Weg in die Zukunft.
Zu den neuen Aufgabenbereichen gehört das auf dem letzten G 8-Treffen auf höchster politischer Ebene vereinbarte Engagement der deutschen Experten in Russland. Die Entsorgung von Atom-U-Booten der russischen Nordmeerflotte umfasst u. a. die sichere landgestützte Langzeitlagerung von 120 kontaminierten Reaktorsektionen in der Saida-Bucht bei Murmansk.
Mit diesem Projekt, das seit sechs Monaten über insgesamt fünf Jahre läuft, soll die Umweltzerstörung in der Region Murmansk beseitigt werden. Die deutschen Ingenieure und Techniker bauen ein Zwischenlager, in dem die radioaktive Hinterlassenschaft des Kalten Krieges in den kommenden 70 Jahren abklingen soll. Das Auftrages-Volumen in Russland beläuft sich in den kommenden zehn Jahren auf stolze 600 Mio. €.
Vor dem Hintergrund der gerade der EU beigetretenen zehn neuen Staaten setzt das Unternehmen in Zukunft verstärkt auf die osteuropäischen Märkte, zumal die frühere sowjetische Technologie in vielen Staaten immer noch eine bedeutende Rolle spielt. Außer in Russland sind die Energiewerke Nord noch in Bulgarien, Litauen und Tschernobyl (bis 2003) im Geschäft.
Ein weiteres Zukunftsprojekt ist die Industrieansiedlung auf dem riesigen Werksgelände des AKW in Greifswald. Die bislang brach liegenden Flächen von insgesamt 125 ha werden seit 1998 zur Industrieansiedlung genutzt. Mittlere und kleinere Betriebe haben bislang dort rund 700 Arbeitsplätze geschaffen. Bis 2007 soll zusätzlich ein 1200 MW Gaskraftwerk ans Netz gehen und Energie zu besonders günstigen Preisen anbieten – ein entscheidender Kostenvorteil für energieintensive Unternehmen. „Zusätzliche Wirtschaftsimpulse erhoffen wir uns durch die Fertigstellung der neuen Autobahn A 20 sowie durch den Ausbau unseres alten Hafenbeckens für Schiffe mit bis zu sieben Meter Tiefgang“, blickt Dieter Rittscher optimistisch in die Zukunft. In die Hafenanlagen sind bislang rund 40 Mio. € investiert worden.
Der Geschäftsführer der Energiewerke Nord sieht für seinen Standort eine rosige Zukunft: „Der Ostseeraum wird nach der EU-Erweiterung zu einer der Boom-Regionen in Europa“, prophezeit der agile Manager.A. SRENK/wip
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