Neubeginn mit deutscher Hilfe
Neubeginn, Wiederaufbau – nach 22 Jahren Bürgerkrieg klingen diese Worte in Afghanistan so fremd wie das Land. Die Große Ratsversammlung der Afghanen, die Loya Jirga, soll den Grundstein für den Frieden legen. 1500 Stammesvertreter tagen ab Montag in Kabul – mit deutscher Technik und Logistik.
Kabul dampft. Fast eine Stunde lang sind Regen und Hagel auf die Stadt geprasselt. Nun sind es schon wieder gut 30 Grad. Doch es ist nicht nur Wasserdampf, der aufsteigt. Die Kanalisation ist nämlich durch Bomben- und Granateneinschläge zerstört. Der Wolkenbruch war einfach zu viel für das Abwassersystem. Tote Ratten, vergammelte Lebensmittel, Waffenreste, Exkremente treiben durch die überschwemmten Straßen. Besonders „würzig“ duftet es in der Straße der Fleischer, wo jeden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, Rinder, Ziegen und Schafe geschlachtet werden. Die Wenigen, die zu Fuß unterwegs sind, achten nicht drauf.
Wo eigentlich soll man anfangen in Afghanistan? Was muss am dringendsten wieder aufgebaut werden in einem Land, in dem mehr als 22 Jahre gekämpft wurde? Es fehlt an allem. Trotzdem findet sich von Fatalismus bei den Afghanen keine Spur. Hacken und Schaufeln auf der Schulter, steht eine Gruppe von 50, 60 Männern an einer Straßenecke: der lokale Arbeitsmarkt. Von hier holen sich die, die es sich leisten können, Tagelöhner für den Wiederaufbau ihrer Häuser.
An vielen Stellen in der Stadt schwitzen Arbeiter, die Wände mauern oder Schutt aus Schulen räumen. Über die Schlaglochfelder, die einmal Straßen waren, rumpeln Jeeps mit Soldaten und Hilfskräften aus dem Ausland. Das 2000 Mann fassende Zelt aus Deutschland, in dem vom 10. bis 16. Juni die Loya Jirga tagen soll, die Große Ratsversammlung der Afghanen, leuchtet hell in der Sonne. Hier soll der Grundstein für eine neue, friedliche Ära im Land der Trümmer gelegt werden. Noch im Februar 2002 war die Vorbereitungskommission in Kabul völlig hilflos. Niemand hier hatte eine Vorstellung davon, wie die Versammlung mit 1500 Delegierten logistisch bewältigt werden kann. Der Zufall kam den Afghanen zur Hilfe.
Hassamudin Tabatabai, Direktor des Kabuler Büros der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ): „Unser Flug von Islamabad nach Kabul hatte Verspätung. Mit uns im Warteraum saß auch Ismail Qasemyar, Chef der Loya Jirga Kommission. Wir kamen ins Gespräch und ein direkter Brief an den Bundeskanzler hat dann dafür gesorgt, dass die GTZ die gesamte Logistik für die Ratsversammlung übernommen hat.“ Das war im Februar.
Pünktlich zu Beginn der Loya Jirga ist die GTZ fertig. Das Konferenzzelt steht, viele kleinere Zelte und durch den Krieg zerstörte Wohnungen der politechnischen Hochschule wurden wieder benutzbar gemacht. Im Versammlungszelt wurden Dutzende von Lautsprechern installiert, Scheinwerfer und Projektionsanlagen sowie Fernsehkameras für die internationale Öffentlichkeit. Selbst für autarke Strom- und Wasserversorgung wurde gesorgt. Die Beratungen darüber, wie die Übergangsregierung gebildet werden soll, können beginnen.
Modernste Konferenztechnik für die Ratsversammlung, doch im Rest des Landes ist weder die Versorgung mit Trinkwasser noch die mit elektrischem Strom gesichert. Trinkwasserrohre sind häufig geplatzt oder zweckentfremdet, Kraftwerke zu einem großen Teil zerstört. Die Nennspannung von 220 V wird in Kabul kaum einmal erreicht, meist pendelt der Zeiger auf dem Voltmeter zwischen 150 V und 180 V. Die Folgeschäden an Geräten sind immens.
Bei dem, was vom einstigen Fernmeldeamt übrig ist, rattern Hebdrehwähler, die vor knapp fünfzig Jahren von Siemens & Halske geliefert wurden. Die Stromversorgung bricht immer dann zusammen, wenn es windig ist oder regnet. Für die Menschen in der Stadt ist es Alltag. Gekocht wird ohnehin über offenen Feuerstellen, die über den Häusern kleine Rauchfahnen in den blauen Himmel schicken.
Ein Junge rennt durch die Gasse, in der Hand ein Stück Papier. Das ist der übliche Weg, Nachrichten zu übermitteln. Die drei halbwegs funktionierenden Fernmeldeämter versorgen noch nicht einmal 7000 Teilnehmer in Kabul, wo nach Schätzungen rund 2,5 Mio. Menschen leben.
Auch da muss etwas passieren. Das weiß vor allen anderen Mohamad Sherifi aus der Planungsabteilung des zuständigen Ministeriums: „Wir glauben, dass alleine hier in Kabul zwischen 350 000 und 500 000 Hauptanschlüsse erforderlich sind. In ganz Afghanistan dürfte der Bedarf bei über einer Million liegen.“ Doch noch ist völlig unklar, wann und wie das Telefonnetz wieder aufgebaut werden kann. Die Geldtöpfe der Geberländer sind weitgehend verplant und Telekommunikation ist in den diversen Programmen nicht berücksichtigt.
Henrik Umnus, regional zuständiger Verkaufsdirektor der Siemens AG, hat die Lage mit Fachleuten sondiert: „Eine Anschubfinanzierung von 10 Mio. $ oder 20 Mio. $ wäre erforderlich. Dann könnten wir es schaffen, die Menschen in Afghanistan wieder an den Rest der Welt anzuschließen.“
Pläne gibt es schon: Einige moderne Fernmeldeämter in Kabul, jeweils ein weiteres in den Städten Jalalabad, Kandahar, Herat und Mazar-I-Sharif. Gerade hat Siemens einen Rahmenvertrag über 350 000 Festnetzanschlüsse erhalten. Henrik Umnus: „Die Afghanen könnten mit einem funktionierenden Telekommunikationssystem sofort Geld verdienen. Denn im Moment gehen Anrufe von Pakistan in viele Länder der GUS und nach Europa fast immer über London. Mit funktionierenden Leitungen wäre Afghanistan ein Transitland im Telekomsystem, würde günstigere Ferngespräche ermöglichen und gleichzeitig Devisen einnehmen.“ Auch andere Branchen könnten durch Telekommunikation wieder ihre Arbeit aufnehmen. Derzeit gibt es keinerlei Bankensystem. Hotel- oder Flugbuchungen gehen nur, wenn man persönlich vorspricht.
Für die Menschen im Lande selbst wären „normale“ Telefone nicht nur ein Zeitsprung über rund fünfzig Jahre, sondern auch ein wichtiger Beitrag zu Frieden und Stabilität im Lande. Mit Hilfe der Kommunikation könnten Meinungsverschiedenheiten gelöst werden, Fachleute würden, ohne lange Reisen, ihren Rat abgeben und wichtige Dokumente könnten per Fax oder E-Mail übermittelt werden.
Natürlich wäre ein Telefonnetz nicht der Schritt Afghanistans in die Neuzeit – es wäre aber ein wichtiger Anfang und Basis für weitere Entwicklung. Noch kann man auch die wenigen Asphaltstraßen im Lande kaum als solche bezeichnen. Die Reisezeit auf Afghanistans wichtigster und größter Strecke, der rund 350 km langen Landstraße von Kabul nach Kandahar, beträgt im Normalfall rund 20 Stunden.
Und dann gibt es noch marode Stromleitungen, Wasserrohre, einen fast völlig zerstörten Flugplatz, verminte Stadtteile, zerstörte Schulen und schier unendlich viel mehr. Und natürlich die dringend erneuerungsbedürftige Kanalisation. DIETER HERRMANN
Afghanistan: Wiederaufbau
Rückkehr fördern
Nach über 20 Jahren Bürgerkrieg kann Afghanistan nur mit internationaler Hilfe den Wiederaufbau schaffen. Die Kosten dafür werden auf rund 14,5 Mrd. $ in den kommenden zehn Jahren geschätzt. Deutschland wird 320 Mio. ! bis 2005 beitragen, kündigte Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul auf der Geberkonferenz in Tokio an.
Neben einem Sofortprogramm für die Bereiche Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Straßenaufbau wird das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Deutschland lebende Afghanen bei der beruflichen Wiedereingliederung in ihre Heimat unterstützen.
Mit 2 Mio. ! fördert das BMZ drei Maßnahmen für Rückkehrer: Es geht um die Vermittlung qualifizierter Fach- und Führungskräfte. Darüber hinaus um Förderprogramme für weniger qualifizierte Rückkehrer und um Existenzgründungen. Die Vermittlung und Fortbildung übernehmen vor allem die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte (AGEF) und die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit (ZAV).
Seit die AGEF Ende April ihr Büro in Kabul eröffnet hat, konnte sie 32 afghanischen Rückkehrern einen Arbeitsplatz vermitteln. Bislang hätten sich rund 350 Unternehmen gemeldet, die Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, so Paul Oosterbeek, AGEF-Projektleiter in Kabul.
Bis zu 8000 ! Eigenkapitalhilfe bekämen Jungunternehmer in Afghanistan, sagt Rolf Gerber von der Deutschen Entwicklungsgesellschaft (DEG), die mit den Geldern des BMZ Gründer unterstützt. Diese kleinen Firmen, so Gerber, würden sehr schnell zwei bis vier Arbeitsplätze schaffen und seien „ein Nukleus für den weiteren Wirtschaftsaufbau“. jg
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