Goliath am Boden zerstört
VDI nachrichten, Marl, 18. 8. 06, sta – Der Gebäudekomplex „Goliath“ in Marl galt Anfang der 70er-Jahre als modern und chic. Die Nachfrage nach Wohnungen im Innern des Riesen überstieg das Angebot deutlich. Doch im Laufe der Jahre verkam das einstige Prestigeobjekt zum sozialen Brennpunkt. Mieter zogen aus, Vandalismus zog ein. Am Sonntag beendeten fünf gewaltige Detonationen diese Entwicklung.
Schon das Sprengsignal geht durch Mark und Bein. Die eben noch aufgeregt murmelnde Zuschauermasse verstummt schlagartig. Ruhe vor dem Sturm. Nur noch eine Minute. Rund 8000 Schaulustige blicken gebannt in Richtung Goliath. Die Spannung ist fast greifbar. Das Herz pocht. Die Sekunden verrinnen. Sonntagmorgen, 9:56 Uhr in Marl.
Goliath, einst das stolze Wahrzeichen der Stadtmitte, erlebt seine letzten Sekunden. Der Riese ist bereits angeknockt. Alle Wände in Längsachse sowie sämtliche Fenster wurden demontiert. Zusätzlich mussten 12 000 m2 Bodenbeläge aufwendig entsorgt werden. Selbst der Estrich konnte nicht bis zum Schluss bleiben. Unter ihm lagerte eine künstliche Mineralfaser. Jetzt ist alles raus. Goliath wirkt nackt.
Was noch steht, ist ein massives Gerippe aus Stahlbeton. Am frühen Morgen hatte die Sonne ein letztes Mal hindurch gestrahlt. Sie hatte in warmes Licht getaucht, was zeitweise 153 Mietparteien ihr zu Hause nannten. Doch in diesem Augenblick wirkt das höchste Gebäude in Marl kalt – wie ein Schatten seiner selbst.
Die Masse aber bleibt beeindruckend: Goliath drückt noch immer mit stolzen 18 450 t auf die westfälische Erde. Daran gemessen ist sein Gegner ein Fliegengewicht. Er bringt nur 350 kg auf die Waage. Doch in seinen Adern fließt reiner Ammonsalpeter-Sprengstoff. Sein Kampfname: Eurodyn 2000. Seine Berufung: zerstören.
Eurodyn 2000 ist klar im Vorteil. Er attackiert genau dort, wo Goliath verwundbar ist. Positioniert wurde der Angreifer vom erfahrenen Team der Thüringer Sprenggesellschaft (TSG), Kaulsdorf. „Wir haben insgesamt rund 350 laufende Meter der tragenden Wände mit dem Sprengstoff präpariert“, erklärt Geschäftsführer Martin Hopfe. „Außerdem wurden die innen liegenden Stahlstreben an einigen Stellen bereits zersägt.“ Diese „Vorschwächung“ war nötig geworden, nachdem eine Probesprengung im Juni gezeigt hatte, welch unbändiger Überlebenswille in Goliath schlummert.
Doch dann geht alles ganz schnell. Plötzlich fliegen einige der am Gebäude angebrachten Filzmatten auseinander. Sie waren angebracht worden zum Schutz vor fliegenden Steinen. Erst eine knappe halbe Sekunde später erreicht die gewaltige Schallwelle der Detonation die Zuschauer. Sie mussten einen Mindestabstand von 200 m einhalten. Alle zucken zusammen. Unter ihren Blicken passiert erstaunliches: Der mittlere Turm kniet nieder – fast behäbig, aber unter ohrenbetäubendem Lärm. Kurz noch trotzen drei Viertel des Treppenhauses der Schwerkraft. Ein letztes Aufbäumen. Dann aber folgen die ungezählten Betonstufen dem Wohnteil des Traktes: abwärts.
Keine Verschnaufpause. Schon knallt es erneut. Auch der Nordturm stürzt zu Boden. Wie geplant, wie ein Stein. Er ist unten, noch bevor sein Nachbar sich endgültig in sein Fallbett gefügt hat.
Dann das Finale. Der Südturm fällt. Wie ein Baum. Er kracht – fast in einem Stück – auf die Reste der anderen Blöcke.
Eine gewaltige Staubflut breitet sich langsam in alle Richtungen aus. Um sie einzudämmen, hat die Feuerwehr 16 Wasserwerfer, drei Düsenschläuche und fünf Hydroschilde installiert. Gespeist werden sie aus einem unterirdischen Vorfluter, dem Rathausbrunnen und diversen Hydranten. Dazu mussten 12 km Schlauchleitung verlegt werden. Pro Minute schießen 31 500 l Wasser in den Himmel.
Die Luft wird gewaschen. Doch der Dreck lässt sich nicht vollständig im Zaum halten. Er schwebt weit über die 200 m-Schutzzone hinaus. Was ihm in die Quere kommt, wird mit einer weißen Puderschicht überzogen. Glücklich schätzen kann sich, wer an einen Atemschutz gedacht hat. Glücklich sind auch die, die eine Autowaschstraße betreiben. Sie erwartet ein „Bombengeschäft“ in den kommenden Tagen.
Als sich der „Nebel“ endlich verzogen hat und drei Hup-Signale das offizielle Ende des großen Knalls verkünden, lockern sich die Gesichtszüge der Verantwortlichen. Keine Trümmer sind über die Schutzzäune hinaus geflogen, keine Nachbargebäude wurden beschädigt. Oberbauleiter Marc Sommer, Geschäftsführer der PL2 Pluralis Planungsgesellschaft in Meerbusch, dürstet es nach Entspannung. „Bitte lasst das Bierfass noch kurz stehen“, flüstert er den Aufräumkräften augenzwinkernd zu, nach dem er der Presse Rede und Antwort gestanden hatte.
Sprengmeister Günter Franke klopft sich unterdessen abseits des Trubels den Staub von der Jacke und lächelt. Wieder ein Job erfolgreich ausgeführt. Der 53-Jährige war es, der den roten Knopf des „Blasters 1600 S“ gedrückt und damit die Zündung eingeleitet hatte. Jetzt zündet er sich die für ihn obligatorische Zigarre an. S. ASCHE
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