Skurrile Chimäre:halb Tier, halb Maschine
Amerikanische Neurophysiologen tüfteln an der ultimativen „Schnittstelle“ zwischen Gehirn und Maschine. Damit lassen sich Computer, Maschinen oder künstliche Körperteile wie Prothesen durch bloße Gedanken steuern – Tastaturen degradieren zum Computerschrott von vorgestern.
Ein (Alb-)Traum wurde im Labor von Ferdinando Mussa-Ivaldi Wirklichkeit. Der gebürtige Italiener und seine Kollegen von der Northwestern University in Chicago schufen eine ebenso schauerliche wie skurrile Chimäre: halb Tier, halb Maschine. Den Forschern ist es gelungen, das Gehirn eines Meerneun-auges – ein primitiver, aalartiger Fisch – an einen kleinen Roboter „anzuschließen“. Damit verleihen sie dem Stahlknecht die Intelligenz, Lichtquellen aufzuspüren und sich auf diese zuzubewegen.
Seine Sehfähigkeit verdankt der Roboter – ein handelsübliches Standardmodell, so groß wie ein Keks auf Rädern – Lichtsensoren, die als künstliche Augen Helligkeitsunterschiede registrieren. Die Forscher platzierten den Anthropoiden in der Mitte einer 50 cm großen schwarzen „Arena“, in deren Rand ringsum Lampen eingebaut sind. Im Experiment wurde jeweils eine dieser Lampen nacheinander eingeschaltet. Der Roboter sollte diese Lampe nun ausfindig machen und ansteuern. Für Links- oder Rechts-Schwenks dreht nur eines seiner beiden Räder drehen beide, fährt er geradeaus.
Dem Fischhirn nun oblag es, die Informationen der Lichtsensoren auszuwerten und in passende Steuerkommandos für die Räder umzusetzen. Das Denkorgan hatten die Forscher vor Beginn der Experimente einem jungen Meerneunauge (Petromyzon marinus) im Larvenstadium entnommen. In einer Petrischale mit spezieller Nährlösung kann es einen Tag überleben. Zum „Anzapfen“ des Hirns implantierte Mussa-Ivaldi unter dem Mikroskop vier Elektroden.
Meerneunaugen verfügen, wie Menschen, links und rechts im Kopf über Gleichgewichtsorgane, mit denen sie ihre Körperhaltung beim Schwimmen kontrollieren. Die von diesen Organen ausgesandten Signale werten bestimmte Nervenzellen (Neuronen) aus, die sich ebenfalls rechts und links im Hirn befinden. Von dort gelangen die Signale jeweils zu sogenannten Müller-Zellen, die die Körperbewegungen steuern – und dabei die Gleichgewichtsinformationen aktiv umsetzen. Diese Zellen sind bei Meerneunaugen ungewöhnlich groß, was die Tiere zu begehrten „Versuchskaninchen“ der Neurophysiologen macht.
Lichtreize am Fischhirn leiten die Bewegung des Roboters
Dieses natürliche „neuronale Netz“ nutzen Mussa-Ivaldi und Kollegen nun zur Steuerung ihres Roboters. Die vier Elektroden stecken paarweise links und rechts in den Hirnregionen der „Gleichgewichtsneuronen“ und der Müller-Zellen. Die Gleichgewichtsneuronen dienen als „Pforte“: In sie werden die Informationen der Lichtsensoren eingespeist – die des linken Sensors in die Neuronen der linken Hirnhälfte und die des rechten rechts. So erhält das Hirn einen gleichsam natürlichen Input: So wie es normalerweise die Informationen der beiden Gleichgewichtsorgane in Einklang bringt, verarbeitet es nun die Datenströme von den beiden Sensoren. Ausgelesen werden die „Denk-Daten“ mit den beiden, nahe den Müller-Zellen steckenden Elektroden.
Das ganze funktioniert freilich nur, weil die Forscher zwischen Roboter und Hirnelektroden ein geeignetes „Interface“ – einen Computer mit Pentium-II-Prozessor – geschaltet haben. Es übersetzt die Sensor-Daten in eine für die Neuronen verständliche Sprache von Strom-Impulsen: Je nach Helligkeit des auftreffenden Lichts „feuert“ das Interface bis zu 25 Impulse/s. Weiterhin errechnet das Interface aus dem Output der Müller-Zellen die Steuersignale für die Roboter-Räder.
Kann man aber bei so viel Hilfs-Elektronik überhaupt noch von einer Denkleistung des Fischgehirns sprechen? Würde der Roboter nicht auch dann wie gewünscht reagieren, wenn die Elektroden in einem salzigen Pudding steckten? „Tatsächlich“, verteidigt sich Mussa-Ivaldi, „wären Zweifel angebracht, wenn sich der Roboter immer gleich verhalten würde.“ Dies sei jedoch nicht der Fall. Bei Versuchen mit neun verschiedenen Test-Hirnen zeigte er deutlich unterschiedliche Reaktionen. In fünf Fällen zog es den Anthropoiden wie gewünscht zum Licht, in den übrigen vier hingegen verhielt er sich geradezu lichtscheu und wandte sich ab. „Das liegt am Aufbau des jeweiligen Gehirns“, sagt Mussa-Ivaldi. „Wenn sich die Nervenbahnen der beiden Hirnhälften kreuzen, geht der Roboter zum Licht, laufen sie parallel, meidet er es. Bei Mischformen kann es auch vorkommen, dass er Kreise zieht oder auf der Stelle rotiert.“
Weiteres Indiz für „echte Denkarbeit“ ist die Lernfähigkeit des Fischhirns. Als Mussa-Ivaldi in einem weiteren Experiment, bei dem die Roboter-Räder abgeschaltet waren, die linken Sensoren mit doppelter Lichtintensität bestrahlte, glich das Hirn den ungleichen Input nach einer Weile aus. „Das gleiche tritt in der Natur auf, wenn sich der Fisch verletzt. Auch dann kann er nach einer Weile sein Gleichgewicht wiederfinden.“
Für Ruhm braucht Mussa-Ivaldi nicht zu sorgen. Im Internet verbreitete sich die Kunde von seiner wundersamen Hybrid-Kreatur in Windeseile. Über Nacht avancierte der Italiener zur Cyberspace-Kultfigur. Avantgardisten der Bewegung „Künstliches Leben“ wie der englische Professor Kevin Warwick sehen ihre Hoffnung bestätigt, dass die Gehirne Verstorbener irgendwann in einem Roboter-Körper „weiterleben“ könnten. Mit steigender Nachfrage rechnen auch Kryobanken, in denen Hirne nach dem Tod ihrer Träger im Tiefkühlschlaf einem neuen Leben entgegendämmern. Der Pittsburgher Roboter-Forscher Hans Moravec glaubt gar, Geist, Intelligenz und Bewusstsein wie Software „in einen scheinend-neuen Roboter-Körper runterladen“ zu können – womit sich der Geist auch noch über die letzte graue Materie erhöbe.
Mussa-Ivaldi sieht sich indes vor allem als Grundlagenforscher. Sein Ziel ist es „herauszufinden, wie Nervenzellen mit Maschinen und umgekehrt kommunizieren können. Wenn wir diese Art Sprache verstehen, können wir zum Beispiel gute Prothesen bauen.“ Inspiriert hatte ihn das Experiment seines Fachkollege John Chapin: Eine Ratte hatte gelernt, mit ihrer Pfote einen Hebel zu betätigen, der ihr als Belohnung Wasser spendete. Chapin pflanzte der Ratte Elektroden in denjenigen Hirnteil, der aktiviert wird, wenn sie ihre Pfote bewegen will, und leitete die Signale an einen den Hebel betätigenden Motor weiter. Das Tier lernte schnell, dass es auch dann Futter bekam, wenn es nur daran dachte, den Hebel zu betätigen. CLAUS-PETER SESIN
Von den Fischen abgeguckt. Die Fähigkeit, Lichtquellen zu finden und auf sie zuzuschwimmen, soll der Roboter durch eingepflanzte Nervenzellen bekommen.
Auslauf für das neue Wesen: Auf dem nur 50 cm großen Teller unternimmt der Roboter unter den strengen Augen seiner Assistentin die ersten Laufversuche.
Ein Beitrag von: