Totaler Durchblick
Architekten träumen von Ganzglas-Konstruktionen, doch das ist eine heikle Sache. Zu wenig war bisher deren Bruchverhalten berechen- und damit einschätzbar. Französische Forscher stellen jetzt ein Rechenprogramm vor, das dies ändern will.
Als Wand von Aufzugskabinen, an Rolltreppen oder bei Wartehäuschen – Glas findet immer anspruchsvollere Einsatzgebiete. So ruht die Glasüberdachung über dem Labor des Kupferstichkabinetts im Louvre auf Trägern aus Glas, genauso wie die Überdachung des Verwaltungszentrums von Saint Germain-en-Laye. Das Atrium eines renovierten Gebäudes in der Pariser Avenue George V erhielt gar eine gänzlich aus Glas hergestellte Überdachung. In Rotterdam ist ein Verbindungsgang zwischen zwei Gebäuden vollständig aus Glas gebaut. Wegen seiner optischen Eigenschaften ist Glas bei Architekten sehr beliebt. Mehr und mehr gelingt es dieser Werkstoffgruppe jetzt auch, in den bislang sehr geschlossenen Kreis der Bau- und Konstruktionswerkstoffe Holz, Beton und Stahl aufgenommen zu werden. Während diese Werkstoffe eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Duktilität aufweisen und einen bevorstehenden Bruch durch Verformen ankünden, ist Glas sehr spröde: Ein Bruch tritt unerwartet und schlagartig auf. Da den Baufachleuten bisher detaillierte, wissenschaftlich belegte Kenntnisse über das Bruchverhalten von Glas fehlten, gab es auch noch keine geeigneten Berechnungsprogramme für Baustrukturen, die allein aus Glas, ohne den Einsatz anderer Materialien errichtet werden. Aus diesem Grund fordern die für die Bausicherheit zuständigen Institutionen Prüfungen an Bauteilen in Originalgröße oder verlangen eine Armierung, wodurch sich die Baukosten erhöhen. Um den Architekten, Statikern und Bauunternehmen die Informationen zu liefern, die zur Errichtung von Glasbauwerken nötig sind, hat das französische Institut für Bautechnik CSTB (Centre Scientifique et Technique du Bâtiment) im Jahr 1993 ein umfangreiches Forschungsprogramm begonnen. Ziel war, geeignete Sicherheitskoeffizienten für Glasbaustoffe zu finden, um Bauelemente aus Glas sicher auslegen zu können. Die Forscher erarbeiteten ein Verfahren, um die Festigkeit von vorgespannten Platten zu ermitteln. Dabei ging man von einer numerischen Simulation des Abschreckvorganges aus, bei dem ein dreidimensionaler Spannungszustand im Werkstoff entsteht. Diese Simulation ist ein ganz wichtiger Teil der Forschungsarbeit, weil es nur mit einer dreidimensionalen Berechnung möglich ist, den Einfluß von Kanten bei dicken Glasplatten zu analysieren. An insgesamt 120 kleinen Prüfkörpern aus wärmebehandeltem Glas wurden Biegeversuche durchgeführt. Auf diese Weise sollten statistische Aussagen über die Biegefestigkeit gewonnen werden, die in direkter Beziehung zum Oberflächenzustand des mechanisch polierten Glases steht. Die statistische Auswertung erlaubt es, die Bruchwahrscheinlichkeit mit der Höhe der anliegenden Spannung zu verknüpfen, wobei das Volumen und die Verteilung der Spannungen berücksichtigt werden. Die somit erzielten Ergebnisse wurden anhand etlicher Versuche an großen Trägern aus wärmebehandeltem Glas überprüft. Zwei durch die rechnerische Simulation vorgegebene und ein durch statische Bruchanalyse ermittelte Punkte wurden miteinander verknüpft, um die Festigkeit der Elemente aus vorgespanntem Glas zu bestimmen. Durch Biegeversuche an großen Trägern aus vorgespanntem Glas wurde dann das Rechenverfahren überprüft. Das Forschungsprogramm wurde in diesem Jahr auf zusammengesetzte Strukturelemente aus Glas ausgedehnt, um das Einsatzgebiet von vorgespanntem Glas mit besonders großer Tragfähigkeit zu erweitern. Mit Blick auf tragende Elemente großer Spannweite stehen in der ersten Untersuchungsphase miteinander verzahnte Glastafeln im Vordergrund. Derartige Glaselemente eignen sich für Strukturen, die über großen Sälen errichtet werden. Hierzu gehören beispielsweise Museen, die auf diese Weise eine natürliche Beleuchtung erhalten. Um zu Aussagen über die Sicherheit von großformatigen Baukörpern aus Glas zu gelangen, ging man von einem Wahrscheinlichkeitsmodell aus. Es beruht auf Prüfungen an kleinen Proben und stützt sich auf ein Rißausbreitungsmodell, das die Einwirkung von Korrosion und Spannungen auf Glas berücksichtigt. Glas hat immer Oberflächenrisse, die von den einzelnen Fertigungsschritten wie Floaten, Schneiden und Polieren herstammen. Diese Fehler sind so zahlreich und so klein, so daß man sie unmöglich messen und auflisten kann. Ein statistisches Näherungsverfahren scheint daher unverzichtbar, um die Biegefestigkeit der Glaselemente darzustellen. Hinzu kommt, daß Glas empfindlich gegen Wasser aus der Umgebung ist. Am Rißgrund kommt es zu chemischen Reaktionen zwischen dem Glas und dem Wasser, was wiederum die Rißausbreitung begünstigt. Durch höhere Temperaturen und bereits am Rißgrund vorhandene Feuchtigkeit sowie Verformungen am Rißgrund werden diese Vorgänge noch beschleunigt. Die Folge ist, daß die Festigkeit von belastetem Glas im Laufe der Zeit sinkt. Man nennt diese Erscheinung „unterkritische Rißbildung“. Das auf Kriterien der Wahrscheinlichkeitsberechnung beruhende Näherungsverfahren muß daher dieses Phänomen berücksichtigen, um die Festigkeit von wärmebehandeltem Glas treffend zu definieren. Darauf aufbauend kann man eine Bruchwahrscheinlichkeit abhängig von der Belastungsgeschichte eines Glaselements vorhersagen.wip
Buch zum Thema: Krewinkel, H.W.: Glasarchitektur. Material, Konstruktion, Detail. 25 exemplarische Projekte aus den letzten 5 Jahren, mit vielen Fotos und Detailzeichnungen. Birkhäuser Verlag, Basel 1998, 98 DM.
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