Vom Schmalspur-Bachelor zum Kreativ-Studium
Vor zehn Jahren beschlossen 29 europäische Wissenschaftsminister, die Studienangebote in ihren Ländern international übertragbar zu machen. 2010 sollte der Prozess beendet sein. Davon sind vor allem die Deutschen noch weit entfernt. Die einen Professoren verzweifeln an der Reform, die anderen nutzen sie zur Rundumerneuerung. VDI nachrichten, Düsseldorf, 30. 4. 09, ws
„Ich mach nicht mehr mit!“ Marius Reiser fühlt sich gegängelt. Nicht von seinen Vorgesetzten oder den Kollegen, sondern von einer Reform. „Der Bologna-Prozess muss gestoppt werden“, verlangt der Mainzer Theologie-Professor. Ein derart „unausgegorenes System“ könne und dürfe sich nicht halten. Die Universität verkomme zu einer Lernfabrik für die Massen. Im Februar diesen Jahres zog Reiser die Konsequenzen und beendete seine Professorenlaufbahn.
Sein Protest richtet sich gegen die Umstellung auf Bachelor und Master und gegen die Modularisierung der Studiengänge – Maßnahmen, die 1999 von den europäischen Bildungsministern zur Schaffung eines gemeinsamen Hochschulraumes beschlossen wurden.
Reiser ist mit seinen Angriffen nicht allein, auch wenn die meisten Kritiker seine Schärfe nicht teilen wollen. Der Deutsche Hochschulverband (DHV), die Berufsvertretung der Wissenschaftler, etwa sieht den Bologna-Prozess hierzulande als „weitgehend misslungen“ an, die Zwischenbilanz falle „ernüchternd“ aus: Die neuen Studiengänge führten nicht zu mehr Mobilität, wie es vorrangiges Ziel der Reform sei. Die straffere Organisation trage nicht dazu bei, die Zahl der Studienabbrecher zu verringern und schließlich bereite die Anerkennung von Leistungsnachweisen Probleme.
Gegenwind kam Anfang der Woche, rechtzeitig vor dem am vergangenen Dienstag stattfindenden fünften Bologna-Nachfolgetreffen im belgischen Leuven, auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). „Die guten Ziele der Reform werden durch ihre unzureichende Umsetzung in Deutschland geradezu konterkariert“, beanstandet die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. Der mangelnden Internationalisierung sei durch mehr Mobilitätsstipendien zu begegnen, die zu kurze Sechs-Semesterstruktur des Bachelor müsse ebenso überdacht werden wie die daraus resultierende Arbeitsbelastung.
Die Umstellung stellt höchste Anforderungen an die Fachbereiche. Wer die Reform in ihrer ganzen Tiefe nutzte und sich an die Entrümpelung überkommener Studieninhalte machte, hatte eine Herkulesaufgabe vor sich. Wer hingegen zu zaghaft an die Reform heranging, wunderte sich, dass die neuen Strukturen nicht zu den alten Inhalten passten.
In Deutschland sind inzwischen rund 75 % der Studiengänge umgestellt, in anderen Ländern liegt die Quote nahe bei 100 %. Einige Ingenieurfachbereiche beginnen erst jetzt mit der Umstellung, häufig weil kooperierende Unternehmen sich nicht vom vertrauten Bewerber mit Diplom trennen können.
„Deutschland hat in den letzten Jahren beim Bologna-Prozess zwar mächtig aufgeholt, doch was viele der europäischen Nachbarn irritiert, sind die immer noch zahlreichen Kritiker in der Professorenschaft. Diese vermitteln manchmal den Eindruck, die Reform innerlich nicht wirklich mitzutragen“, sagte Ulrike Reimann, Sprecherin der European University Association, gegenüber der „duz“ (Deutsche Universitätszeitung).
Auch BWL-Professor und Bologna-Experte Volker Grehmlich glaubt, dass die Philosophie der Reform von Professoren meist „nicht wirklich gelebt“ werde. Verbissen verfolge man vermeintliche Vorgaben, „die aber so detailliert und streng von den europäischen Wissenschaftsministern zu Beginn des Prozesses gar nicht festgelegt wurden“.
Dass der Wandel als Chance genutzt werden kann, zeigen Beispiele aus der Praxis. So bietet die Leuphana-Universität Lüneburg nur noch einen ingenieurwissenschaftlichen Bachelorstudiengang an, in dessen Verlauf die Studierenden kontinuierlich von allgemeinbildenden Angeboten, Teamarbeit und Interdisziplinarität begleitet werden. So setzen sich etwa angehende Umweltexperten mit Wirtschaftswissenschaften oder Ästhetikfragen auseinander.
Nur jedes dritte Unternehmen vergütet Masterabsolventen höher als Bachelorabsolventen
An der FH Kiel ist es den Professoren gelungen, ein Projektstudium im Ausland als festen Bestandteil zu etablieren. Die Kooperation mit internationalen Hochschulen wurde 2008 mit dem europäischen Mobilitätszertifikat honoriert. Ebenfalls ausgezeichnet wurde der Studiengang „Mechanical and Process Engineering“ an der TU Darmstadt. Angehende Ingenieure lernen bereits im ersten Semester an Projekten, um Feuer für die spannenden Ingenieurwissenschaften zu fangen.
Und schließlich die RWTH Aachen. Am Lehrstuhl für Informatik waren die Studenten in die Bachelor-Konzeption eingebunden. Die Beteiligten dankten es mit einem harmonischen Arbeitsverhältnis und wenig Klagen.
Die Fantasie einzelner ist gefragt, reicht aber nicht immer. Dass der Bologna-Prozess nicht ohne finanzielle Aufstockung zu einem glücklichen Ende geführt werden kann, meint Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, „denn Bachelor-Abschlüsse kosten meist mehr als die bisherigen Studiengänge. Die Mittel wurden aber nicht aufgestockt“. Generell aber machten die Firmen gute Erfahrungen mit den neuen Absolventen.
Dabei wissen viele Personalverantwortliche noch nicht einmal, was sie von diesen Hochschulabgängern zu halten haben, wie eine Studie der FH Düsseldorf nachweist. „Es wird lediglich nach einem abgeschlossenen Studium, nicht aber nach einem konkreten Abschluss gefragt. Dementsprechend bewerben sich Bachelor- und Masterabsolventen oft auf dieselben Stellen und durchlaufen denselben Bewerbungsprozess. Nur bei jedem zweiten Unternehmen steigen Masterabsolventen auf einer höheren Position ein als Bachelorstudenten und sogar nur jedes dritte Unternehmen vergütet Masterabsolventen höher und ermöglicht ihnen schnellere Aufstiegschancen“, so die Ergebnisse der Düsseldorfer Wirtschaftswissenschaftler. WOLFGANG SCHMITZ
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