Hochschule 08.10.2004, 18:33 Uhr

Absprung ins Ungewisse

Studienabbrecher haben es hierzulande schwer. Die Chance allerdings, als „abgebrochener Student“ die Karriere zu retten, ist über die Selbstständigkeit oder in einem kleineren Unternehmen größer als in einem Konzern.

Das Praxissemester ist die kritischste Phase für den Studienabbruch“, stellt Paul Melcher fest, Professor für Konstruktionslehre an der Fachhochschule Bonn. „Manchmal muss ich jemandem gut zureden, dass das Ingenieurdiplom sich auf die Dauer besser auszahlt als eine noch so verlockende Arbeitsstelle zum schnellst möglichen Zeitpunkt.“
Trotzdem geben bundesweit ein Viertel und mehr Ingenieurstudenten vorzeitig auf. „Was aus ihnen, aus ihren Erwartungen wird, ist bislang leider nicht statistisch erforscht“, sagt Ulrich Heublein vom Hochschul-Informations-System (HIS). „Verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse fehlen deshalb.“ Im Augenblick arbeitet HIS daran, die Wissenslücke zu schließen, mit Hilfe tausender Studienabbrecher, die vor einigen Jahren bereits über ihre unterschiedlichen Gründe von fachlichem Desinteresse bis zu schwer erträglichem Geldmangel Auskunft gegeben hatten.
„Bei Industrie- und Handelskammern“, bemerkt Heublein, „hört man zwar immer wieder, wie willkommen abgebrochene Ingenieurstudenten sind. Die Frage bleibt nur, als was, womöglich nur als Lückenbüßer, Verfügungsmasse. Und um welchen Preis, für welchen Lohn?“ Frank Becker, Bildungspolitiker im Weltunternehmen Siemens, antwortet: „Die Chancen sind immer konjunkturabhängig. Heute muss der Studienabbrecher seine früheren Träume erst einmal deutlich niedriger hängen, so etwa auf Sachbearbeiterebene. Bewerbungen bei Großunternehmen sind nicht besonders aussichtsreich, weil sie in der ersten Runde nach der Papierform, nach Zeugnissen aussortiert werden.“ Deshalb Beckers Rat: Es lieber bei kleinen Firmen versuchen, womöglich auch in abgelegeneren Landesteilen. „Hauptsache, man kann sich persönlich vorstellen und den bisherigen Werdegang selbst erläutern.“
Demgegenüber drängt Andrea Gurba, Beraterin beim Arbeitsamt Bonn, in jedem Fall auf einen formellen Abschluss – wenn nicht im Studium, dann in der beruflichen Bildung. „Wer noch in der technischen Arbeitswelt Fuß fassen will, sollte unbedingt eine Azubistelle etwa als Mechaniker suchen. Die Schmerzgrenze liegt in vielen Betrieben bei 25 Jahren.“ Denn in dem Alter haben andere Abiturienten, Real- und Hauptschüler schon längst den Facharbeiterbrief.
Der ungelernte Studienabbrecher verkennt leicht die Enge des Bildungs- und Arbeitsmarktes. Die Hochschulen schöpfen diesen Markt jetzt mit dem neuen sechssemestrigen Bachelorstudium nach unten aus, unterhalb des traditionellen FH-Diploms. Wo das Gehaltsniveau liegen wird, ist zurzeit noch nicht abzusehen. Umgekehrt will der Industrie- und Handelskammertag für den deutschen Meister den internationalen Titel „Bachelor (IHK)“ und den noch weiter qualifizierten Technischen Betriebswirt die Rangbezeichnung „Master (IHK)“ durchsetzen. Neben den berufsfertigen Facharbeitern, Technikern und Akademikern bleibt schwerlich Platz für den Abiturienten mit etwas Hochschulerfahrung.
Im Ausland ist das oft anders. In Frankreich machen 60 % und mehr eines Jahrgangs, doppelt so viele wie hierzulande, das Abitur („Baccalauréat“) und besuchen anschließend für kürzere oder längere Zeit die Uni. In den Bewerbungsunterlagen steht dann „Bac + 2“, wobei die Ziffer die Anzahl der Studienjahre benennt. Wer nur zwei Jahre an einem so genannten „Universitätsinstitut der Technologie“ (IUT) studiert, macht nach deutschen Maßstäben bestenfalls eine „Lehre“, erläutert Harald Schraeder von der Hochschulrektorenkonferenz. Der Zweijährige hat nichtsdestoweniger eine formelle und reelle Qualifikation für den Arbeitsmarkt, weil es in Frankreich neben der Hochschule so gut wie keine praktische Berufsausbildung und damit keine Mitbewerber aus diesem Bereich gibt.
Ähnlich in England. Dort vergeben Hochschulen ein „Certificate“ oder „Diploma of Higher Education“ für Studienleistungen nach einem oder zwei Jahren im Bachelorstudium. „Im Deutschen würde man wohl von ,Abbrecherdiplomen“ sprechen“, sagt Johanna Witte vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). „Das entspricht aber nicht dem Geist dieser Abschlüsse. Sie zertifizieren ja Lernen, das wirklich stattgefunden hat.“
Indes gibt es überall, auch hierzulande, genug Wirtschaftsbereiche, die Studienabbrechern ohne besondere „Bildungspatente“ große Karrieren eröffnen, etwa als sozial kompetente Immobilienmakler oder im Außendienst von Maschinenfabriken oder als Existenzgründer. Das Vorzeigebeispiel ist Theo Lieven, Jahrgang 1952, Mathematiker mit Vordiplom der Technischen Hochschule Aachen. Mit 23 Jahren gründete er Vobis, die größte PC-Handelskette Europas, und leitete sie 1996. Heute ist Lieven Privatier, ehrenamtlicher Business Angel für Gründer im Rheinland, internationaler Konzertpianist, Jetpilot und Fluglehrer. Rückblickend betrachtet das Glückskind seinen Studienabbruch als „Weg in die Unabhängigkeit“.HERMANN HORSTKOTTE

Ein Beitrag von:

  • Hermann Horstkotte

    Hermann Horstkotte ist freier Journalist und  lehrte als Privatdozent an der RWTH Aachen. In Bonn arbeitet er als Bildungs- und Wissenschaftsjournalist.

Zu unseren Newslettern anmelden

Das Wichtigste immer im Blick: Mit unseren beiden Newslettern verpassen Sie keine News mehr aus der schönen neuen Technikwelt und erhalten Karrieretipps rund um Jobsuche & Bewerbung. Sie begeistert ein Thema mehr als das andere? Dann wählen Sie einfach Ihren kostenfreien Favoriten.