Mehrarbeit aus der Karriereperspektive

Kritisch wird es, wenn Überstunden zum Dauerzustand werden.
Foto: panthermedia.net/AlexNazaruk
Im Wirtschaftswunderland Deutschland waren in den 60er und 70er Jahren Überstunden fester Bestandteil des Arbeitslebens. Im Grunde konnten sich die Mitarbeiter selbst aussuchen, ob und in welchem Maße sie Überstunden machen wollten. Einige Kollegen, die nicht genug an Arbeit oder an Geld bekommen konnten, nahmen sich zum Wochenende die Arbeit mit nach Hause. Andere nutzten die morgendliche Überstunde für das Frühstück, den Toilettengang, die Zeitungslektüre oder das so wichtige Networking. Schnell kamen auf diese Weise, ohne großen Aufwand, 20 bis 25 Überstunden im Monat zusammen – abgesehen davon, dass größere Auftragseingänge, Geburtstage, erfolgreich abgeschlossene Projekte etc. in der Firma „begossen“ wurden, selbstverständlich im Rahmen der Arbeitszeit. Es galt als schick, Überstunden zu machen. Mitarbeiter mit vielen Überstunden galten als besonders engagiert und belastbar, empfahlen sich für die Beförderung und wähnten sich als besonders wichtig, ja sogar unabkömmlich für den Arbeitgeber. Wer nicht mitzog, hatte schlechte Karten.
Heute sind diese paradiesischen Zustände wohl kaum noch anzutreffen. Überstunden und die damit verbundenen Kosten werden akribisch verwaltet und Betriebsräte verfolgen mit Argusaugen das Geschehen. Überstunden sind zur Ausnahme geworden – zumindest bei den tariflichen Angestellten, was natürlich nicht heißt, dass es das Phänomen Mehrarbeit heute nicht mehr gibt. Da in verschiedenen Branchen die Kapazitäten mehr als ausgelastet sind, kommen Unternehmen teilweise um Mehrarbeit nicht herum, die meist im tariflichen Rahmen vergütet wird. Wer außertariflich arbeitet, verdient in der Regel soviel Geld, dass hier einfach die Mehrarbeit vom Arbeitnehmer erwartet werden darf.
Klar, um Projekte gut hinzubekommen und beim Vorgesetzten und der Personalabteilung zu punkten, kommt man um die Mehrarbeit häufig nicht herum, die aber nicht zwangsläufig in den Unternehmen geleistet werden muss. Ein Projektbericht beispielsweise kann auch zu Hause geschrieben und eine Präsentation sehr gut am heimischen Schreibtisch vorbereitet werden. Dies ist auch deshalb sinnvoll, um bei voller Konzentration die Aufgaben zum vollen Erfolg zu bringen. Das ist alles völlig normal und schließlich hat der Ingenieur dabei eine gehörige Portion Eigeninteresse. Er möchte im Unternehmen weiterkommen und auf der Karriereleiter nach oben klettern. Wie heißt es: Ohne Fleiß, kein Preis!
Kritisch wird es nur dann, wenn Überstunden zum Dauerzustand werden. Es muss dann umso genauer auf einen angemessenen Ausgleich zur Arbeit geachtet werden, um nicht dauerhafte körperliche oder seelische Beeinträchtigungen zu erleiden. In jungen Jahren steckt der Körper im Grunde nahezu alles weg, was man ihm zumutet. Ein adäquater Ausgleich erscheint als überflüssige Zeitverschwendung. Wenn man älter wird, stecken einem dann doch die permanenten Langstreckenflüge, das ständige Sitzen, die unendliche Computerarbeit usw. in den Knochen. Und was nutzt der momentane Erfolg, wenn auf Dauer das Leistungsvermögen beeinträchtigt wird?
Überstunden werden heute zudem nicht grundsätzlich positiv interpretiert. Schließlich sind sie ein Beweis, dass der betreffende Mitarbeiter im Rahmen der üblichen Arbeitszeit mit seinen Aufgaben nicht fertig wird. Zweifel an der Belastbarkeit, den Fähigkeiten, dem Zeit- und Selbstmanagement kommen da schnell auf. Kann da jemand nicht delegieren, nicht Nein sagen? Wichtig ist es daher, insbesondere wenn ein neuer Arbeitsplatz angetreten wird, die Gepflogenheiten im Unternehmen zuerst zu beobachten, bevor man voll durchstartet. Denn beim Thema Überstunden kann man sich schnell in die Nesseln setzen, sobald man von der Norm abweicht. Wenn der frisch Angestellte schon am ersten Arbeitstag Überstunden leistet, um sich bei seinem Vorgesetzten einzuschmeicheln, obwohl der Rest der Abteilung pünktlich nach Hause geht, steigert das sicherlich nicht unbedingt den Beliebtheitsgrad bei den Kollegen. Genauso verbittet es sich natürlich, dann pünktlich nach Hause zu gehen, wenn die Kollegen im Schweiße ihres Angesichtes gerade noch ein Projekt pünktlich über die Ziellinie bringen wollen.
Aber auch Vorgesetzte können beim Thema Überstunden einiges falsch machen. So posaunte ein Abteilungsleiter im Großraumbüro unter Anwesenheit seiner Mitarbeiter beim Anruf eines Freundes laut in den Hörer: „Ja, mit der Arbeitszeit habe ich jetzt alles im Griff, ich komme nie als Erster und gehe nie als Letzter.“ Er hatte dabei ganz vergessen, dass er von seinen Mitarbeitern jede Menge Überstunden verlangte, nur er hielt sich an die üblichen Arbeitszeiten. Bei der Mannschaft sank daraufhin die Arbeitsmoral. Vorbildlich verhielt sich dagegen ein Teamleiter: Die vom Kunden erwartete Software erforderte eine Woche vor ihrer Präsentation jede Menge Überstunden von den Programmierern. Er selbst konnte zwar fachlich nichts beitragen, dennoch war er im Unternehmen anwesend und versorgte seine Mannschaft mit Getränken und sonstigen Annehmlichkeiten.
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