So entscheide ich in der Praxis
Die Industrie funktioniert wirklich so, wie Sie es Woche für Woche darstellen. Bewerbungsempfänger beispielsweise sind ganz normale Menschen, die bei 60 Stunden pro Woche zwischen zwei Besprechungen noch schnell sieben Bewerbungen lesen müssen, weil es nach der zweiten Besprechung gleich zum Flughafen geht. Also wird blitzschnell selektiert und entschieden, welche Kandidaten eingeladen werden. Diese Selektion geschieht mit Hilfe von Projektionen, also etwa so:
„Aha, der erste Kandidat hat bis zum Berufseintritt einen sehr ähnlichen Studienverlauf wie ich – einschließlich Schwerpunkt und Noten, fängt interessant an! Nach dem Studium geht er als Entwickler zum Konzern A. Der Laden gehört zu den Top 5 in der Branche und ist mir bekannt, da ich damals beim Konkurrenzkonzern B angefangen hatte.
Doch was macht er? Wirft nach zwei Jahren das Handtuch. Nach dieser Zeit hatte ich auch meinen ersten Durchhänger, bin aber geblieben! Richtige Erfahrungen kann er in dieser kurzen Zeit nicht gesammelt haben. Danach hat er weitere zwei Jahre bei der mir völlig unbekannten kleinen Klitsche C gearbeitet und jetzt will er wieder zurück zu einem internationalen Großkonzern.
Wenn der bei mir im Projekt anfängt, hat er gerade ein halbes Jahr Einarbeitungszeit bis zur heißen Phase. Der wirft doch beim ersten Trommelfeuer wieder das Handtuch und die anderen in meinem Team stehen dann alleine da!!! Der meint wohl, wir würden in der jetzigen Hochphase jeden nehmen! Resultat: Wird nicht eingeladen.“
Antwort:
Danke für das praxisnahe Beispiel. Es zeigt sehr schön,
a) wie es „menschelt“ in diesem Bereich (der eigene Werdegang des Entscheidungsträgers ist ein wesentlicher Maßstab) und
b) wie man aus „Vorkommnissen“ im Lebenslauf auf Qualifikationsdetails beim Bewerber (bis hin zu Charaktereigenschaften) schließt.
Ein anderer Entscheidungsträger, der zufällig an dieser Stelle saß, hätte auch etwas anderes entscheiden können – aber „2 x 2 Jahre“ sind zu kurz und „vom Kleinunternehmen zum Großkonzern“ funktioniert nicht – diese Prinzipien gelten nahezu immer.
Frage-Nr.: 1658
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 14
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2002-04-13