Liebt Mell das System?
(Jubiläums-Einsendung): Die wiederholte Beteuerung von Herrn Mell, er beschreibe nur das System, ist sicherlich aufrichtig. Wer aber, so wie er, zwischen den Zeilen lesen kann, muss sich vorhalten lassen, dass viele seiner kritischen Leser in seinen Antworten spüren, dass er das System liebt, Ja, er könnte es erfunden haben.
Dabei verträgt das System mehr als Herr Mell glaubt: Wer in einer Firma ein Aktivposten ist und erkennbar das Wohl der Firma im Auge hat, muss sich bei Kritik an Vorgesetzten nicht zurückhalten.
Antwort:
Die Ansage, ich könnte das seit Menschengedanken mit Abstand erfolgreichste System dieser Art erfunden haben, ist nun wirklich zu viel der Ehre für mich. Es war wohl auch eine nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung von Ihnen.
Nein, ich liebe das System keineswegs, ich sehe seine Grenzen, seine Unvollkommenheiten und seinen latenten Hang zur Menschenverachtung (wenn, wie es nun einmal ist, Kapitalinteressen auf Nr. 1 der Prioritäten stehen, dann bleibt für alles andere, auch für Menschen, nur ein nachgeordneter Rang; daher verdienen Investmentbanker auch sehr, sehr viel mehr als Personalleiter).
Der Hintergrund bei mir ist ein anderer: Ich habe als ganz junger, „kleiner“ Mitarbeiter im Konzern plötzlich erkannt, dass ich einen instinktiven Zugang zu den Regeln habe, nach denen das System funktioniert. Mir war spontan klar, warum Vorgesetzte so handelten und wie sie dachten, was Mitarbeiter falsch machten und welche Unterschiede es zwischen manchen Vorstandssitzungen und dem Streit von Kindern im Sandkasten gab (wenige). Ich habe einen Zugang zu machtpolitischen Überlegungen (ohne selbst Macht auszuüben) und weiß intuitiv, was Betroffene vermutlich nicht verstehen. Und aus diesem sich spontan aufdrängenden Talent habe ich etwas zu machen versucht. Seien Sie unbesorgt: Diesen Fähigkeiten stehen mindestens ebenso viele anderweitige Begabungsmängel gegenüber (meine Frau listet bei Bedarf gerne etwas davon auf).
Und natürlich kann und darf ein Mitarbeiter, der einen Aktivposten darstellt, sich auch kritisch äußern und dem Chef die eigene Meinung auch dann darlegen, wenn sie abweichend ist. Ich war 28 Jahre lang Angestellter, was glauben Sie, was ich all die Jahre getan habe? In der Sache meinen Standpunkt vertreten – wenn auch im Ton so konziliant, dass Beförderungen nicht verbaut und Rausschmisse nicht erwogen wurden. Aber ein bequemer, fügsamer Mitarbeiter war ich sicher nie.
Da ist es wieder, das große Missverständnis: Manche Leser vereinfachen meine Empfehlungen auf die Formel „Du sollst deinem Vorgesetzten nach dem Munde reden“ – so wie in der „Feuerzangenbowle“ ein Lehrer sich „der Meinung des Herrn Direktor“ anschließt, bevor dieser überhaupt eine geäußert hat. Der Herr Direktor reagiert darauf übrigens mit Ablehnung und Verachtung. Und genau das meine ich! Sie sollen Ihre Vorgesetzten erheitern und dazu bringen, Sie für „gut“ zu halten. Ein moderner, positiv zu sehender Chef wird nicht zu diesem Urteil kommen, wenn Sie bei ihm speichelleckend agieren. Er will aufrichtige, selbstständig denkende, unverbogene, selbstbewusste Mitarbeiter – die zufällig meistens seiner Meinung sind. So ist das Leben.
Frage-Nr.: 2326
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 26
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2009-06-24