Gesundheit 14.05.1999, 17:21 Uhr

„Patentrezepte gegen Krebs gibt es nicht“

Krebs ist so alt wie die Menschheit – und immer noch gibt es kein Allheilmittel dagegen. Viele Patienten wünschen inzwischen eine ganzheitliche Behandlung. Über unkonventionelle Krebstherapien diskutierten in Heidelberg jetzt Experten aus aller Welt.

Krebs verändert das Leben der Patienten“, sagt Dr. György Irmey, Kongreßleiter und Ärztlicher Direktor der Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr (GfBK) in Heidelberg. Sich selbst aufzugeben oder allein dem Arzt die Verantwortung zu überlassen, sei eine Gefahr – für Kranke wie für Ärzte. „Die Krebserkrankung betrifft den ganzen Körper und nicht nur ein einzelnes Organ“, so Irmey. Deshalb habe auch nur eine ganzheitliche Bekämpfung Aussicht auf dauerhaften Erfolg.
Ob Mistel- oder Thymusextrakt, Qi Gong oder Meditation – lang ist die Liste der natürlichen Verfahren, die eine klassische Krebstherapie begleiten können. „Welche Therapie für welchen Patienten geeignet ist, hängt auch vom Krebsstadium und der Immunlage ab“, erläutert Dr. Heinz-Jürgen Bach, niedergelassener Arzt in Solingen. An die 500 verschiedene Mittel und Methoden stehen allein im deutschsprachigen Raum bereit. „Patentrezepte gegen Krebs aber gibt es leider nicht“, bedauert Irmey.
Weit über 300 000 Menschen erkranken jedes Jahr in Deutschland neu an Krebs, schätzt das Robert-Koch-Institut in Berlin. Viele dieser Patienten könnten mit der eigenen Immunabwehr den Erfolg der klassischen Krebstherapie beschleunigen. Es geht wohlgemerkt nicht darum, die Schulmedizin zu ersetzen. Wer aber neben Operation oder Bestrahlung auf biologische Maßnahmen setzt, hat gute Chancen, die Bildung von Metastasen oder sogar einen Rückfall zu verhindern. Zudem werden Tumorschmerzen erträglicher und die oft heftigen Nebenwirkungen von Chemotherapie und Bestrahlung gelindert.
Auf vier Säulen – Psyche, Stoffwechsel, Ernährung und Immunsystem – ruht die unkonventionelle Krebstherapie, um die Selbstheilungskräfte optimal auszuschöpfen. Meditationsübungen und Gespräche stärken die Psyche, Sport und Massage aktivieren den Stoffwechsel, vollwertige Lebensmittel ergänzen die bisherige Ernährung und spezielle Präparate stärken die Im-munabwehr.
„Die Misteltherapie ist der Renner unter den biologischen Verfahren“, fand Irmey in einer bundesweiten Patientenerhebung der GfBK heraus. Fast 70 % der Befragten bauen auf die Heilkräfte dieser Schmarotzerpflanze. Danach folgt mit knapp 60 % die sogenannte Orthomolekulare Therapie, bei der die Ernährung durch bestimmte Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente ergänzt wird. 20 % bis 30 % der Krebskranken erhoffen sich Linderung durch die Einnahme von Enzymen oder die Anwendung von Organextrakten. „Die Wirksamkeit einer ergänzenden Behandlung ist in klinischen Studien inzwischen nachgewiesen worden“, sagt Prof. Josef Beuth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Onkologie.
Mistelextrakte sorgen für ein gesteuertes „Selbstmord-Programm“ (Apoptose) in den Krebszellen und schützen außerdem das Erbgut des normalen Gewebes vor den aggressiven Chemotherapeutika. Dr. Rainer Klopp konnte am Berliner Institut für Mikrozirkulation zeigen, daß Mistelpräparate das Verhalten weißer Blutzellen verändern und so die Körperabwehr stimulieren. Neben Lektinen wirken in der Mistel vor allem Oligo- und Polysaccharide, Flavonoide sowie Viscotoxine. „Deren zelltötende Eigenschaften sind lange bekannt, doch wurde erst jetzt ihre immunologische Potenz intensiv untersucht“, so Frau Dr. Gerburg Stein vom Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke.
Das Thymusorgan ist das wichtigste Steuerungsorgan für die Abwehr von Mikroerregern und Krebszellen. Thymuspeptide regen die Produktion sogenannter sekundärer Zytokine, die als Zellgift wirken, sowie die Bildung von bestimmten Lymphozyten im Knochenmark an. Darüber hinaus aktivieren sie auch natürliche Killerzellen und Makrophagen.
Zur Krebsprophylaxe nehmen viele Patienten auch Vitamin E und C, Beta-Karotin, Melatonin und Glutathion ein. Von den Spurenelementen ist Selen am besten untersucht. Es fängt nicht nur schädliche Verbindungen ab, sondern scheint auch direkt tumorhemmend zu wirken und die Reparaturenzyme des Erbguts zu aktivieren. Obwohl Selenverbindungen in den USA und in England bereits mit Erfolg verabreicht werden, setzen sie sich hierzulande erst langsam durch.
„Auch die Bewegungsübungen des Qi Gong, einer wichtigen Säule der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), regulieren Organfunktionen und stärken das Immunsystem“, erklärt Frau Dr. Qiduan Li aus Berlin. Mit einer speziellen Atemtechnik des Guolin Qi Gong, einer Weiterentwicklung der klassischen Übungen, soll der bei Krebserkrankungen auftretende Sauerstoffmangel im Gewebe behoben werden. Dies stabilisiere nicht nur die Psyche der Patienten, sondern sorge auch dafür, daß Bestrahlung und Chemotherapie besser vertragen würden. Das chinesische Gesundheitsministerium hat Guolin Qi Gong übrigens im vergangenen Jahr als medizinische Heilmethode für Krebspatienten anerkannt.
In die allgemeine Begeisterung, die diese Vielzahl von ergänzenden Methoden zur klassischen Krebstherapie auslösen könnte, mischt sich jedoch aktuell ein politischer Vermutstropfen. Geht es nach dem Willen des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, soll mit der Neufassung der Arzneimittelrichtlinien beinahe die Hälfte der Naturheilverfahren aus der Erstattung herausfallen. „Auf dem Kongreß wurde jetzt ein Protestschreiben an Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer gerichtet, um sie zu einer Rücknahme dieser einschneidenden Veränderungen bei der Arzneimittelrichtlinie zu bewegen“, sagt Irmey.
BETTINA RECKTER
Die Wirksamkeit der Misteltherapie ist mittlerweile auch klinisch belegt.
Meditation und die Bewegungsübungen des Qi Gong stärken das Immunsystem ebenso wie pflanzliche Extrakte.

Ein Beitrag von:

  • Bettina Reckter

    Bettina-Reckter

    Redakteurin VDI nachrichten
    Fachthemen: Forschung, Biotechnologie, Chemie/Verfahrenstechnik, Lebensmitteltechnologie, Medizintechnik, Umwelt, Reportagen

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