Mensch und Technik zusammenbringen 18.06.2021, 07:30 Uhr

Technik als Wirkhebel für humanitären Wandel

Ingenieure ohne Grenzen e.V. entwächst im Jahr 2021 mit dem 18. Geburtstag seinen „Kinderschuhen“. Nachhaltige technische Aufbauprojekte in entlegenen Regionen der Welt sowie Bildungsaspekte stehen bei der Arbeit des Vereins im Fokus.

Ein Mitglied von "Ingenieure ohne Grenzen" (IOG) entwickelte eine Kleinstwasserkraftanlage. Die Turbine hat eine Leistung von 250 Watt und liefert Strom für eine Familie. Sie wurde unter Einsatz modernster Simulationssoftware entwickelt. Foto: IOG

Ein Mitglied von "Ingenieure ohne Grenzen" (IOG) entwickelte eine Kleinstwasserkraftanlage. Die Turbine hat eine Leistung von 250 Watt und liefert Strom für eine Familie. Sie wurde unter Einsatz modernster Simulationssoftware entwickelt.

Foto: IOG

An der Spitze des gemeinnützigen und unabhängigen Vereins (www.ingenieure-ohne-grenzen.org) steht seit Anfang des Jahres 2021 Barbara Meyn. Die Redaktion sprach mit ihr über die Organisation, die Ausrichtung und die Ziele für die kommenden Jahre.

Redaktion VDI-Z: Frau Meyn, was hat Sie dazu bewegt, die Position als Geschäftsführerin des Vereins zu übernehmen?

Meyn: Da spielen mehrere Faktoren mit rein. Tatsächlich reizt es mich, an der Schnittstelle verschiedener Themen zu arbeiten und hier im übertragenen Sinne „Brücken zu bauen“. Spannend ist das Zusammenwirken zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und öffentlicher Hand auf der einen Seite und der interdisziplinäre Aspekt unserer Projekte auf der anderen. Ingenieure ohne Grenzen (IOG) macht es möglich, mit dem Wissen und der „Wirkmacht Technik“ von hier aus positive Veränderungen in anderen Teilen der Erde herbeizuführen. Dabei bildet das ehrenamtliche, bürgerschaftliche Engagement das Fundament unserer Arbeit. Dieses gilt es zu aktivieren. Darüber hinaus spielt das Thema Bildung für mich eine entscheidende Rolle. Wir bieten gerade jungen Menschen, Studierenden oder Berufseinsteigern die Möglichkeit, eigenverantwortlich Projekte durchzuführen. Die inneren Bereicherungen und Erfahrungen, die sie sammeln, nehmen sie in ihr späteres Berufsleben mit. All diese Aspekte sind mir sehr wichtig.

Redaktion VDI-Z: Wenn Sie über interdisziplinär sprechen, was verstehen Sie genau darunter?

Meyn: Die Entwicklungszusammenarbeit ist unser primärer Satzungszweck. Das oberste Ziel von IOG ist es, die Lebensbedingungen von notleidenden und benachteiligten Menschen in anderen Teilen dieser Welt durch den Aufbau einer Grundinfrastruktur langfristig zu verbessern. Wir bauen und entwickeln nachhaltige technische Lösungen, unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Dazu zählt zum Beispiel der Zugang zu sauberem Wasser, Strom und Sanitäranlagen.

Ein erfolgreiches Projekt: Zisternenbau in Guinea.

Foto: IOG

Unsere Ziele erreichen wir aber nicht nur mit Ingenieurtechnik. Wir versuchen, das Ingenieurswesen dazu einzusetzen, die Infrastruktur von Menschen zu verbessern – können das aber nur mit Unterstützung aus anderen Disziplinen. Beispielsweise engagieren sich Mediengestalter in unserem Verein, die uns beim digitalen Fundraising unterstützen, oder Biologen, die ihr Wissen zu Bakterien im Wasser in unseren Wasserprojekten einsetzen.

Redaktion VDI-Z: Welche Bedeutung hat für Sie speziell das Ingenieurswesen in diesem Zusammenhang?

Meyn: Entwicklungszusammenarbeit ist kein klassisches Ingenieursthema. Aber Technik generell hat eine große Hebelwirkung und kann unglaublichen Mehrwert für Menschen schaffen. Da braucht es nicht die viel zitierte „Rocket Science“, um sich das vor Augen zu führen. Denken wir an die Erfindung des Rads. In unserem Kontext heißt das, dass beispielsweise der Bau einer vergleichsweise simplen Zisterne in einem Dorf dazu führen kann, dass Kinder zur Schule gehen können. Weil sie sich nicht mehr stundenlang auf den Weg zur Wasserstelle außerhalb des Dorfes machen müssen, haben sie jetzt die Zeit dazu. Selbst wenn die technische Anlage Zisterne als solche für einen deutschen Ingenieur keine nennenswerte Herausforderung darstellt, sind die Auswirkungen für die Menschen vor Ort immens, nicht nur in puncto Hygiene und Gesundheit, sondern auch hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen.

Redaktion VDI-Z: Damit die Chancen auf einen nachhaltigen Projekterfolg möglichst hoch sind, ist es sicherlich wichtig, dass das Projektteam über die passenden Kompetenzen verfügt. Wie funktioniert das?

Meyn: Seit der Gründung von IOG im Jahr 2003 haben wir einen reichen Erfahrungsschatz in der Organisation sammeln können. Mit rund 500 Ehrenamtlichen sind wir ohnehin deutlich in diese Richtung geprägt. Wir haben aber zudem ein hauptamtliches Team, das die Ehrenamtlichen professionell unterstützt und für Kontinuität sorgt – sowohl in den Projekt-Inhalten als auch im Aufsetzen der Vorhaben.

Idealerweise findet sich in den Projektteams eine Bandbreite an Disziplinen – von Betriebswirten, Soziologen, Kulturwissenschaftlern bis zu Architekten, die überzeugt sind, mithilfe von Ingenieurstechnik einen humanitären Beitrag leisten zu können. Darüber hinaus gibt es in unserem Verein Fachgremien, die je nach Schwerpunkt der fachlichen Ausrichtung der Projekte entsprechend eingebunden werden. Zu unseren Anforderungen gehört es, dass immer ein ausgebildeter Ingenieur oder Ingenieurin mit einem Hochschulabschluss die technische Seite eines Projektes betreut.

Unser Anliegen ist es, aktiven Engagierten – mit Unterstützung von entsprechender Fachexpertise – die Möglichkeit zu geben, tatsächlich Projekte von A bis Z umzusetzen. Einerseits möchten wir die Projektteilnehmenden aus den Projekten mit neuen Skills entlassen, auf der anderen Seite einen hohen Wirkungseffekt in den Projekten erzielen. Hier fahren wir zweigleisig.

Eine "Ingenieurin ohne Grenzen" bei der Analye einer Probe vor Ort: In jedem Projekt ist ein ausgebildeter Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Hochschulabschluss für die technische Seite zuständig.

Foto: IOG

Redaktion VDI-Z: Welche Bedeutung hat die Vorbereitung auf den Einsatz vor Ort bei Ihnen?

Meyn: Schulung spielt bei uns eine zentrale Rolle. Wir schulen unsere Projektteams vom ersten Tag an. Gerade der interkulturelle Erfahrungsschatz ist bei den meisten jungen Projektteilnehmern in der Regel nicht sehr ausgeprägt. Wenn wir uns über Wirkungen unterhalten, die wir als gemeinnützige Organisationen erzielen wollen, dann steht eben nicht der Bau der Zisternen im Vordergrund. Es geht vielmehr um die verbesserte Gesundheitsversorgung vor Ort und die höheren Bildungschancen. Das ist tatsächlich eine Aufklärungsarbeit, die wir leisten müssen und wollen. Darüber hinaus steht die Befähigung der Menschen vor Ort im Fokus, die technischen Anlagen, die wir bauen, weiter betreiben zu können – und zwar eigenständig.

Das heißt, Bildung ist bei uns auf allen Ebenen der Projektumsetzung ein wichtiger Aspekt. Das Ziel besteht darin, unsere Projektteilnehmer zu befähigen, nachhaltige Projekte mit dem Wirkungsaspekt Entwicklungszusammenarbeit umsetzen zu können. Beim Thema Schulung geht es zudem um die Zusammenarbeit mit Projektpartnern. Im Rahmen unserer Projekte suchen wir den langfristig angelegten Kontakt zu Partnerorganisationen vor Ort, um Wissen auf beiden Seiten aufzubauen und Synergien zu schaffen.

Redaktion VDI-Z: Wie stellen Sie sicher, dass ihre Projekte möglichst viel Wirkung erzielen?

Meyn: Neue Projektvorhaben werden der Geschäftsstelle vorgestellt und müssen freigegeben werden, um sicherzustellen, dass sie bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen. Generell sind unsere Projekte dreiphasig angelegt: Die erste Phase dient der Erkundung. Hierbei ist es uns wichtig, dass diese Ergebnis-offen ist. Das ist entscheidend, um wirklich dort unterstützend angreifen zu können, wo sich die größte Hebelwirkung erzielen lässt. Zum Beispiel hatte sich eine Schule in Uganda bei uns gemeldet und um dringende Unterstützung bei der Energieversorgung gebeten, damit der Lehrer einen Laptop nutzen kann. Als das Projektteam vor Ort zur Erkundung war, stellte sich heraus, dass das größte Problem nicht die Elektrizität, sondern die Wasserversorgung war. Dort wird nun nicht primär eine Solaranlage auf dem Dach der Schule installiert, sondern das Projektteam errichtet eine Wasserversorgung und Sanitäranlagen. Das sind die Grundvoraussetzungen, damit die Jungen und Mädchen überhaupt zur Schule gehen können. Ohne Sanitäranlagen bleiben beispielsweise Mädchen in Zeiten der Menstruation oft zu Hause.

Die zweite Phase ist dann die Implementierung, die auf der in der Erkundung identifizierten Problemlage aufsetzt, gefolgt von der dritten Phase, der Evaluation.

Redaktion VDI-Z: Wie finden die ehrenamtlichen Mitarbeiter den Weg zu Ihnen?

Meyn: Was die ehrenamtlichen Strukturen anbelangt, so sind wir dezentral in Regionalgruppen aufgestellt. Diese heute insgesamt 33 Gruppen haben sich zum Großteil an Standorten von Technischen Hochschulen oder Universitäten gegründet. Das bedeutet, dass es an vielen Orten in Deutschland Anlaufstellen, Ansprechpartner und Aktivitäten gibt. Unsere Gruppen agieren eigenständig. Sie stellen sich, ihre Arbeit und den Verein im lokalen Umfeld vor, repräsentieren IOG auf Veranstaltungen und organisieren gesellschaftliche Zusammenkünfte, die den Austausch zu Themen fördern, mit denen wir uns beschäftigen.

Derzeit bauen wir unsere Inlandsarbeit aus, die auch heute schon facettenreich ist. Zum einen geht es darum, die Begeisterung für MINT-Themen stärker zu wecken. Auf der anderen Seite möchten wir die interessierte Öffentlichkeit verstärkt für Themen sensibilisieren, die bei uns im Kontext mit der Projektarbeit stehen: seien es soziale Ungerechtigkeiten, die interkulturelle Kommunikation, die globale Zusammenarbeit, das globale Lernen oder einfach die Tatsache, wie wenig es braucht, um tatsächlich Veränderungen anzustoßen. Dabei verstehen wir das globale Lernen nicht als ein gönnerhaftes Weitergeben von Fachexpertise des Nordens an den globalen Süden, sondern als ein gegenseitiges voneinander lernen. Um in der deutschen Öffentlichkeit die Aufklärung zu diesen Inhalten voranzutreiben, arbeiten wir immer wieder auch mit Schulen zusammen. Denn wir wollen junge Menschen, Schülerinnen und Schüler schon frühzeitig auf ressourcenschonenden Konsum sowie die Risiken und Chancen rund um den Themenkomplex Klima aufmerksam machen.

Mitwirkende kommen daher auf unterschiedlichsten Wegen zu uns. In der Regel entweder über die Regionalgruppen oder durch Aktivitäten, die wir hier aus der Zentrale in Berlin koordinieren wie PR oder Social Media.

Redaktion VDI-Z: Das klingt so, als stelle die Pandemie Sie vor große Herausforderungen. Welche Auswirkungen hat Covid-19 bisher auf Ihre Arbeit?

Meyn: Tatsächlich sind wir positiv überrascht, wie gut der Schwenk ins Digitale gelungen ist. Zum einen funktioniert das Vereinsleben gut. Ich glaube, wir haben uns inzwischen alle an die digitalen Kommunikationskanäle gewöhnt. Es gibt ja diverse Tools, die den Austausch erlauben. Da zeigt sich die Tragfähigkeit unserer Organisation. Das Eigeninteresse der Regionalgruppen ist vorhanden, und den Leuten macht es Spaß, sich bei uns zu engagieren. Wenn dem Team Steine in den Weg gelegt werden, dann wird es kreativer.

Veranstaltungen, Stände auf Messen und andere Events, bei denen wir potentielle Spender erreichen, mussten wegen der Pandemie ausfallen. Dafür haben wir dann unsere Auftritte in den sozialen Medien stark ausgebaut, digitale Spendenveranstaltungen organisiert und neue ehrenamtliche Strukturen geschaffen, um die zusätzlichen digitalen Aktivitäten zu unterstützen.

Zum anderen konnten wir einen Teil unserer Projekte weiter vorantreiben. Entweder waren sie noch nicht in der Phase, dass Ausreisen konkret anstanden und beispielsweise noch technische Berechnungen oder Gutachten erforderlich waren. Oder aber die Planungen für eine der drei skizzierten Phasen lief ohnehin noch. Und da, wo ein nächster Schritt oder die Auslandsreise geplant war, um sich die Gegebenheiten anzuschauen oder Projekte umzusetzen, haben wir teilweise gut und erfolgreich auf Remote-Lösungen zurückgreifen können. Sei es durch die Ausweitung des Aufgabenfeldes der Projektpartner vor Ort, gepaart mit regelmäßigen digitalen Besprechungen, oder sei es durch die Unterstützung durch unsere Kooperationspartner, beispielsweise „Engineers without Borders“ (EWB) USA und Schweden. Die USA haben ein Länderbüro in Uganda und konnten daher an unserer Stelle Erkundungen durchführen. Das hat bestens geklappt, so dass die Auswirkungen der Pandemie auf unsere Arbeit insgesamt erfreulicherweise gering sind.

Redaktion VDI-Z: Und noch einen Blick in die Zukunft. Was sind Ihre Ziele für die nächsten drei Jahre?

Meyn: Unser Bestreben ist es, in den kommenden drei Jahren Reichweite und Schlagkraft weiter zu erhöhen. Im Zuge dessen haben wir unsere Projekte in Programmen zusammengefasst. Neben dem Inlandsprogramm bündeln wir die Auslandsprojekte in den Programmen „Schulen“ und „Infrastruktur“ für ländliche Gemeinden. Hier wollen wir verstärkt eine langfristige Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen etablieren, sogenannte „Anker-Partner“ aufbauen, um unsere Erfahrungen weiter in die Breite zu tragen.

Nehmen wir wieder das Beispiel Zisternenbau, gleiches gilt aber auch für Sanitäranlagen. Wenn in einer Dorfgemeinschaft die ersten Zisternen gebaut wurden, dann versuchen wir gemeinsam mit unseren Partnern, die Region großflächiger zu bespielen. Dieses programmhafte Arbeiten dient dazu, die Beziehungen so zu intensivieren, dass über weitere Bedarfe gemeinschaftlich diskutiert und verhandelt wird. Welche Maßnahmen schaffen zum heutigen Zeitpunkt den größten Mehrwert? Wo setzt man die Prioritäten? Das funktioniert erst nach einem gewissen Vertrauensaufbau. Von daher stellen Bedarfsorientierung und Vertrauensbildung für uns wichtige Punkte dar, die wir mit den langfristigen Partnerschaften etablieren wollen.

Der Aspekt Bildung bleibt in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Projekts. Hilfe zur Selbsthilfe hat oberste Priorität, denn wir wollen keine Abhängigkeiten schaffen, sondern die Menschen dazu befähigen, ihre Zukunft selbst zu gestalten.

Redaktion VDI-Z: Weiterhin viel Erfolg und vielen Dank für das Gespräch.

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Von Birgit Etmanski / Barbara Meyn

Barbara Meyn ist seit Januar 2021 Geschäftsführerin von Ingenieure ohne Grenzen. Die 43-jährige Volljuristin ist seit über 15 Jahren im gemeinnützigen Sektor tätig, zuletzt in der Geschäftsführung des Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V./SchlaU, einer im Jahr 2000 gegründeten und mehrfach prämierten sozialen Bildungsinstitution. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit bildeten hier die Organisations- und strategische Weiterentwicklung sowie das Multistakeholder-Management und die Netzwerkarbeit. Zuvor war Barbara Meyn langjährig im Stiftungssektor tätig, u.a. in leitender Funktion beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Bild: IOG