Netzwerken für nachhaltigeren Umgang mit Reifen
Eine 2020 gegründete Allianz will Reifen in der EU möglichst lange auf der Straße halten und anschließend auch in der EU klimagerecht, das heißt stofflich, verwerten. Das hätte Vorteile: weniger Abfälle, mehr Sekundärstoffe, eine geringere Abhängigkeit von Rohstoffimporten wie Kautschuk und auch weniger CO2-Emissionen.
Das Reifenrecycling in den Werken des dänischen Reifenrecyclers Genan mit Hauptsitz in Viborg ist vollautomatisiert und gewährleistet eine gleichbleibend hohe Qualität. Die drei deutschen Genan-Werke - in Dorsten, NRW, Kammlach, Bayern, und Oranienburg, Brandenburg - haben eine Recyclingkapazität von 205.000 t Altreifen von Pkw, Transportern, Lkw, Traktoren und Erdbewegungsmaschinen.
Foto: Genan
Jährlich fallen allein in Deutschland mehr als 500 000 t Altreifen an – eine wertvolle Ressource, die immer noch viel zu häufig als sekundärer Brennstoff eingesetzt oder ins Ausland exportiert wird. Das Netzwerk Allianz Zukunft Reifen (AZuR) mit Sitz in Willich setzt genau hier an: den Lebenszyklus von Reifen durch Reparatur, Nachprofilieren und Runderneuerung zu maximieren. Erst wenn dies technisch nicht mehr möglich ist, folgt die klimagerechte mechanische oder chemische Verwertung.
Das schont nicht nur Umwelt und Klima etwa durch das Vermeiden von Emissionen und Energieverbrauch bei der Herstellung neuer Reifen, sondern stärkt auch die Rohstoffsouveränität Deutschlands und der EU. Bereits heute ersetzen Sekundärrohstoffe wie Gummigranulat aus Altreifen zunehmend importierte Materialien. Damit leistet die Reifen-Kreislaufwirtschaft einen wachsenden Beitrag zur Unabhängigkeit von globalen Rohstoffmärkten.

Das Unternehmen Reifengruppe Ruhr in Bochum verwertet und entsorgt Altreifen fachgerecht. Eine sorgfältige Erfassung des In- und des Outputs erlaubt transparent eine nachvollziehbare Verwertung.
Foto: Reifengruppe Ruhr.
Ein paar Zahlen: 2024 sind in Deutschland – nach Angaben des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie (wdk) – etwa 533 000 t Altreifen angefallen. Davon wurden rund 193 000 t (rund 36 %) mechanisch verwertet. Unter der Annahme, das Reifens zu rund 70 % aus einer Gummimischung (Naturkautschuk, Synthesekautschuk und Füllstoffe) bestehen, könnten theoretisch bis zu 135 000 t dieser Rohstoffe zurückgewonnen werden, die dann nicht wieder importiert werden müssen.
Von einer Vision zu einem EU-Leuchtturm
Gegründet wurde AZuR 2020, um die bis dahin unkoordiniert agierende Altreifenbranche zusammenzubringen und gemeinsam ganzheitliche Lösungen für eine nachhaltigere und wirtschaftlich tragfähigere Zukunft zu entwickeln (siehe Kasten unten). Schnell zeigte sich, dass die Herausforderungen der Branche nur durch interdisziplinäre Kooperation, technologischen Fortschritt und politische Unterstützung zu bewältigen sind.
Nachhaltigkeit mit Renditepotenzial
Recycling darf dabei kein Selbstzweck sein: Es muss sich wirtschaftlich lohnen, um dauerhaft tragfähig zu sein und breite Akzeptanz zu finden. AZuR setzt genau hier an und zeigt, dass sich Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und wirtschaftliche Effizienz in der Reifenbranche gegenseitig verstärken können.
Ein zentrales Beispiel ist das Runderneuern von Reifen von Nutzfahrzeugen, die Nfz-Reifen. Dabei werden gebrauchte Reifen durch Aufbringen einer neuen Lauffläche wieder voll nutzbar gemacht. Diese Form der Wiederverwendung ist ökologisch und betriebswirtschaftlich attraktiv: Die Herstellung eines runderneuerten Reifens verursacht über 60 % weniger CO2-Emissionen, benötigt etwa zwei Drittel weniger Rohstoffe und spart rund 50 % Energie im Vergleich zur Neuproduktion. Zudem senkt der runderneuerte Reifen je nach Einsatzbereich bis zu 30 % der Bereifungskosten von Busunternehmen, Speditionen und Fuhrparks.

Die Runderneuerung von Reifen verursacht rund 63 % weniger CO2-Emissionen als die Herstellung vergleichbarer Neureifen. So emittieren bei der Runderneuerung eines Lkw-emittieren rund 135 kg weniger CO2 als bei der Herstellung eines neuen Lkw-Reifen.
Foto: Pneuhage
Auch im Pkw-Bereich können durch Reparatur oder den Einsatz von runderneuerten Reifen erhebliche Einsparpotenziale verwirklicht werden. Fachleute schätzen, dass jeder dritte oder gar zweite beschädigte Pkw-Reifen technisch problemlos reparierbar ist, mit deutlich niedrigeren Kosten und weniger Umweltbelastung als ein kompletter Neukauf.
Auch in nachgelagerten Verwertungsstufen – etwa bei der mechanischen Verwertung zu Stahldraht, Textilfasern und vor allem Gummigranulat und Gummimehl – lassen sich wirtschaftliche Mehrwerte verwirklichen. So entstehen aus einem scheinbaren Abfallprodukt marktfähige Sekundärrohstoffe. Das granulierte oder fein gemahlene Altreifengummi kommt in zahlreichen Anwendungen – von Sportböden über Lärmschutzsysteme bis hin zu gummimodifiziertem Asphalt – zum Einsatz. Dieser Ansatz macht nicht nur unabhängiger von teuren Rohstoffimporten, sondern schafft auch Wertschöpfung in der Region.

Drei Sekkundärrohstoffe aus Altreifen: Stahldraht (links), Gummij-Granulat (Mitte) und Textilfasern (rechts). Die Fasern (ca. 10 % des Reifens) weisen gute Dämmeigenschaften auf, der Stahldraht (ca. 15 %) eignet sich für das Einschmelzen in Stahlwerken und das Gummi-Granulat (ca. 75 %) ist ein wertvoller Sekundärrohstoff.
Foto: Genan
Forderungen an Politik und Gesellschaft
AZuR versteht sich auch als politische Stimme der Reifen-Kreislaufwirtschaft. In einem Forderungskatalog an die Politik in Berlin und Brüssel hat das Netzwerk klare Erwartungen formuliert. Einige Beispiele:
- In der EU anfallende Altreifen müssen verpflichtend in der EU wiederverwertet oder recycelt werden,
- die illegale Entsorgung von Altreifen, insbesondere der Export in Nicht-EU-Staaten, muss daher konsequenter verfolgt und unterbunden werden,
- bei öffentlichen Ausschreibungen ist der Einsatz runderneuerter Reifen zu bevorzugen,
- mechanisch recycelte Reifenmaterialien wie Gummigranulat und Gummimehl sind durch eine klare End-of-Waste-Regelung als wirtschaftlich nutzbare Sekundärrohstoffe anzuerkennen – etwa Gummigranulat und -mehl aus dem mechanischen Recycling genauso wie Recovered Carbon Black (rCB) und Pyrolyseöl, das „Tyre Pyrolysis Oil“ (TPO), aus dem chemischen Recycling,
- das Gewinnen von Sekundärrohstoffen aus Altreifen muss Vorrang vor der Erzeugung von Recovered Carbon Fuels (RCF) haben sowie
- mehr Förderprogramme für Reifentechnologien und Kreislaufinnovationen.
Der AZuR-Forderungskatalog zeigt: Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft braucht rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die ressourcenschonende Innovationen ermöglichen und fördern.

In der Pyrolyseanlage von Pyrum Innovations in Dillingen im Saarland werden Pyrolyseöl, Gas und ein fester Kohlenstoffrückstand, der zu hochwertigem „recovered Carbon Black“ (rCB) – auf Deutsch Ruß – aufbereitet . Schwalbe, Hersteller von Fahrradreifen verwendet in 70 % seines Sortiments recycelten Ruß aus alten Fahrradreifen und spart damit rund 80 % CO₂ ein – ohne Abstriche bei Qualität oder Performance.
Foto: Schwalbe Deutschland.
Forschung: Motor für Innovation
Eine Säule des AZuR-Netzwerks ist die enge, strategische Zusammenarbeit mit Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen. Forschung ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Innovationstreiber für konkrete Lösungen für die Praxis. Ein zentrales Thema ist eine verbesserte Devulkanisation, also eine effektivere Rückführung vulkanisierten Altreifengummis in ursprüngliche Kautschukbestandteile. Weitere Forschungsthemen sind zukunftsweisende Pyrolyseverfahren, Material- und Lebenszyklusanalysen sowie innovative Anwendungen wie gummimodifizierter Asphalt. So werden in modernen Pyrolyseanlagen zuvor geschreddertes und granuliertes Altreifen-Gummi bei 500 bis 700 °C ohne Sauerstoff zerlegt. Dabei entstehen Gas, Pyrolyseöl und ein fester Kohlenstoffrückstand, der zu Recovered Carbon Black aufbereitet wird.
In jährlichen AZuR-Kolloquien tauschen sich zudem Wissenschaftler über Forschungsergebnisse, Pilotprojekte und technologische Entwicklungen aus. Die Kolloquien haben sich als Branchentreffpunkt etabliert und leisten einen Beitrag zur Verbreitung von Innovationsimpulsen, zur Identifikation von Forschungsbedarfen und zur Anbahnung neuer Kooperationsprojekte.
So wird das AZuR-Netzwerk nicht nur zum Innovationsmotor der Reifenbranche, sondern auch zum Brückenschlag zwischen akademischer Forschung und industrieller Umsetzung – ein Erfolgsmodell für nachhaltige Technologieentwicklung im Sinne der Kreislaufwirtschaft.
Fazit: Reifenrecycling ist mehr als Entsorgung – es ist Ressourcenschutz, Innovationsmotor und Standortfaktor. AZuR bringt alle zusammen, die Teil der Lösung sein wollen.

Bei der Pyrolyse werden Altreifenschnitzel bei Temperaturen bei hohen Temperaturen zersetzt. Da dies ohne Sauerstoffzufuhr geschieht, wird das Material nicht vollständig oxidiert, so dass statt CO₂ und Asche wertvolle Sekukndärrohstoffe wie hier recovered Carbon Black (rCB), also Ruß, entstehen. Bild: Pyrum Innovations
Christina Guth ist Geschäftsführerin im Netzwerk Allianz Zukunft Reifen (AZuR)
c.guth@c-g-w.net




