„Nur noch kurz die Chemie retten“
Die Chemieindustrie hat eine Perspektive in Deutschland. Dies glauben eine Denkfabrik, ein Fraunhofer-Institut und ein Beratungsunternehmen. Mit Fokus auf erneuerbare Rohstoffe aus Land- und Abfallwirtschaft sehen sie Innovationen, Arbeitsplätze – und eine klimaneutrale Chemie. Doch der Weg dahin erfordert eine klare Strategie mit Investitionen, Unterstützung durch die Politik sowie grüne Leitmärkte.
Julia Metz, Direktorin der Denkfabrik Agora Industrie, führte am 4. November in die Risiken und Chancen der Transformation zu einem zukunftssicheren Chemiestandort in Deutschland, der von Importen unabhängig ist, ein.
Foto: Agora Industrie/Rolf Schulten
Keine Frage: Die Chemieindustrie steht durch hohe Gas- und Ölpreise, schwache Konjunktur und internationale Konkurrenz unter Druck. „Angesichts dessen braucht die deutsche Chemieindustrie eine neue Perspektive“, sagt Julia Metz, Direktorin der Denkfabrik Agora Industrie, Berlin. Sie verweist auf die aktuelle Studie „Innovationen für morgen: Chancen für eine klimaneutrale Chemieindustrie“ – erstellt von der Denkfabrik, dem Fraunhofer-Institut für keramische Technologien und Systeme IKTS, Dresden, und dem Kölner Industrieberater Carbon Minds.
Chemieunternehmen sollten, so diese drei Organisationen, auf eine erneuerbare Kohlenstoffbasis aus Recycling von Kunststoffprodukten sowie heimischer Biomasse setzen. Im Ergebnis könnten sie auf diese Weise bis 2045 bis zu 90 000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, bis zu 10 Mrd. € an neuer Wertschöpfung generieren und unabhängiger von Rohstoffimporten werden (siehe Kasten am Ende des Textes). Betreiben sie ihre Prozesse zudem strombasiert, können sie dann jährlich 80 Mio. t an Treibhausgas (THG)-Äquivalenten entlang der Wertschöpfungskette einsparen.

Chemieanlagen wie hier bei Augsburg sollen auch weiterhin nachts in Deutschland glitzern.
Foto: Smarterpix/Nemo1963
Realistisch und leistbar?
Ist das realistisch? Für Verbraucherinnen und Verbraucher wäre es tragbar, meinte Paul Münnich, Agora Industries Projektleiter der Studie: Eine Softdrink-Flasche hergestellt aus erneuerbaren Kunststoffen würde sich um etwa 3,3 % verteuern, ein Pkw um 1,1 % und Verpackungen für Lebensmittel um 0,9 %. Und für die Chemieindustrie? Matthias Belitz, Bereichsleiter Nachhaltigkeit, Energie und Klimaschutz vom Verband der Chemischen Industrie (VCI), betonte, dies erfordere zuerst milliardenschwere Investitionen.
Ist das leistbar? Viviane Raddatz vermisste konstruktive Vorschläge seitens des VCI. Die Leiterin des Bereichs Klimaschutz und Energiepolitik des WWF erteilt zudem der Forderung von Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender von Evonik, eine Absage, den Emissionshandel zu streichen oder drastisch zu reformieren.
Doch der VCI stehe zur Klimaneutralität, entgegnet VCI-Mann Belitz: Den Emissionshandel wolle der VCI nicht abschaffen, sondern, um globale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, modifizieren: Weil die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten stufenweise auslaufen wird, würde dies das Herstellen von Chemikalien in der EU schrittweise verteuern und damit das Bestehen im globalen Wettbewerb erschweren. Gleichzeitig fehlten Transformationsvoraussetzungen wie die Verfügbarkeit von THG-neutralem Strom und Wasserstoff in ausreichenden Mengen und zu vertretbarem Preis. Belitz ergänzt, der VCI werde bald eigene Vorschläge zur Reform des Emissionshandelssystems vorlegen, damit die Chemieindustrie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten und klimaneutral werden kann.
Lösungsmix gefragt
Was hilft? Es brauche sowohl zur Transformation entschlossene Unternehmen als auch Signale aus der Politik, die diese Unternehmen unterstützen: Denn Unternehmen müssen wieder Vertrauen in den Wirtschaftsstandort bekommen, betont Metz.

Utz Tillmannn, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Verbands der chemischen Industrie (VCI), unterstützt seit September 2020 die Denkfabrik Agora Industrie und morderierte am 4. November die Veranstaltung „Von fossilen Importen zum zukunftssicheren Chemiestandort“.
Foto: Agora Industrie/Rolf Schulten
Dazu muss in Deutschland und der EU ein geeigneter Rahmen geschaffen werden, der Unternehmen im globalen Wettbewerb stärkt. Wichtig sei dabei, die aktuellen Mehrkosten von durchschnittlich rund 1 000 €/t Basischemikalien zu adressieren – auch wenn der Preis daraus hergestellter Endprodukte um kleine Prozentbeträge steige, erklärt Metz. Dazu braucht es eine langfristige Perspektive für die Transformation – durch den Emissionshandel, Investitionsanreize für klimaneutrale Prozesse und einen starken europäischen Markt für grüne Produkte Made in Europe.
Preiswerter produzieren und höhere Nachfrage
Um die Produktion zu entlasten, empfiehlt Metz etwa eine unmittelbare Entlastung durch einen Industriestrompreis – dies hat die Bundesregierung bereits für die Zeit von 2026 an angekündigt. Auch „ein verlässliches CO2-Preissignal über den Emissionshandel der EU im Zusammenspiel mit einem wirkungsvollen CO2-Grenzausgleich bietet Schutz für den Aufbau klimaneutraler Produktionsstandorte und erlaubt das Einpreisen von indirekten Emissionen, etwa bei der Rohstoffförderung“, so Metz. Sie spricht damit das CO2-Grenzausgleichssystem der EU, kurz CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism), an, das die Einfuhren von energieintensiven Produkten wie Aluminium, Eisen und Stahl als auch einigen wenigen Chemikalien wie Ammoniak mit einem CO2-Preis, der dem des Emissionshandels in der EU entspricht, belegen wird. CBAM hilft jedoch nicht dabei, teurer als im Weltmarkt hergestellte Chemikalien zu exportieren.
Eine andere nach der Vorstellung der Studie diskutierte Idee war, den Emissionshandel so zu ändern, dass Unternehmen für Chemikalien, die sie mit erneuerbarer Energie aus erneuerbaren Rohstoffen herstellen, Gutschriften für Zertifikate erhalten.

Paul Münnich, Projektleiter Chemie und Elektrifizierung der Industrie bei Agora Industrie, erklärte am 4. November Details der Studie „Innovationen für morgen:Chancen für eine klimaneutrale Chemieindustrie“.
Foto: Agora Industrie/Rolf Schulten
Um die Nachfrage nach Chemikalien, die mit erneuerbarem Strom und erneuerbaren Rohstoffen hergestellt werden, zu steigern, braucht es grüne Märkte, wo Anwenderinnen und Anwender sowie Verbraucherinnen und Verbraucher die Mehrkosten tragen. Hier helfen Substitutionsquoten für Produkte. Die EU hat solche bereits für Verpackungen beschlossen und für Kunststoffe im Pkw werden solche in Brüssel gerade diskutiert. Und aus dem Publikum kam die Idee, fossil hergestellte Produkte generell mit 1 % zu besteuern und erneuerbar hergestellte Produkte steuerlich um 10 % zu entlasten.
Metz setzt auch auf die Stärke der hiesigen Chemieunternehmen: „Sie sind für ihre Innovationsstärke und Technologieführerschaft bekannt. Eine Abkehr von fossilen Rohstoffen bietet nun die einmalige Chance, diese Potenziale zu nutzen und sich zugleich zukunftsfest aufzustellen.“




