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Nachhaltigere Chemie 05.12.2025, 12:00 Uhr

Erneuerbare Chemie: Steht in den Startlöchern

Die Energiewende ist eine Erfolgsgeschichte: Immer mehr erneuerbare Energiequellen versorgen Haushalte und Unternehmen mit Strom und Wärme. Für die Treibhausgas-Neutralität braucht es auch eine Chemiewende: erneuerbarer Kohlenstoff aus Altkunststoffen, Biomasse und der Luft muss schrittweise fossilen Kohlenstoff ersetzen. Kann sich die Erfolgsgeschichte wiederholen?

   Foto: Smarterpix/Sandralise

Foto: Smarterpix/Sandralise

Ein Blick mehr als 30 Jahre zurück: Am 2. Januar 1993 schaltete der ehemalige Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) 1) in der Süddeutschen Zeitung eine Anzeige mit folgendem Text: „Strom aus Sonne, Wind und Wasser. Wie viel ist möglich? Selbst langfristig können nicht mehr als 4 % unseres Strombedarfs aus diesen Quellen gedeckt werden.“

Das war damals die allgemeine Wahrnehmung in Deutschland und fast überall in der westlichen Welt: Fossile Ressourcen dominierten, erneuerbare Technologien wie Wind- und Solarenergie wurden als marginal oder unwirtschaftlich abgetan. Und Befürworter erneuerbarer Energien wurden oft als Fantasten oder ideologisch geprägt abgestempelt.

Doch das änderte sich: Schrittweise trat das globale Energiesystem in eine Phase grundlegender Veränderungen ein. Der entscheidende Wandel ging nicht allein von fortgeschritteneren Technologien aus, sondern auch von politischen Maßnahmen, die Lernkurven beschleunigten und die vorhersehbare Marktbedingungen schufen.

Wendepunkt Erneuerbare-Energien-Gesetz

In Deutschland sorgte 2001 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) mit seiner Einspeiseregelung für diese Stabilität und Vorhersehbarkeit. Es ermöglichte Investitionen, senkte wirtschaftliche Risiken und ermöglichte erneuerbaren Energien, den experimentellen Zustand zu verlassen und im industriellen Maßstab genutzt zu werden. Heute liefern erneuerbare Energien einen Großteil des weltweiten Stroms und sind zu einem zentralen Bestandteil der globalen Energiestrategie geworden.

Es steht außer Frage, welchen Energiequellen die Zukunft gehören wird, nicht nur aus Gründen der Nachhaltigkeit, sondern auch aus rein kommerziellen Gründen. Am Beispiel Solarenergie ist erkennbar, wie aus einer extrem teuren Nischentechnologie für Spezialanwendungen etwa für Satelliten eine der günstigsten Energieformen wurde.

Heute – mehr als 30 Jahre später – vollzieht sich in der chemischen Industrie eine vergleichbare Transformation: Die Abhängigkeit von fossilen Kohlenstoffquellen wird zunehmend als unvereinbar mit Klimazielen und Ressourcenresilienz angesehen. Auch hier herrscht die Auffassung, dass Lösungen auf Basis erneuerbarer Kohlenstoffquellen wie Biomasse, Plastikrecycling und CO2-Abscheiden aus Luft oder Abgasen zu „teuer“ seien und daher eine Nische bleiben könnten.

Schematishe Darstellung der drei Kohlenstoffquellen, die zu einer erneuerbare Chemie führen: biobasierter Kohlenstoff, per CCU aus Luft oder Abluft gewonnener Kohlenstoff sowie Kohlenstoff, recycelt aus Kunststoffabfällen. Grafik: nova-Institut

Es gibt jedoch viele technologische Lösungen für den Ersatz fossiler Rohstoffe, die bereits einsatzbereit sind. Beispiele sind innovative biobasierte Bausteine, Inhaltsstoffe und Kunststoffe sowie biomasse-bilanzierte Drop-in-Lösungen als auch für die Kohlenstoffabscheidung und -verwertung, also für CCU, sowie für das breite Spektrum mechanisch und chemisch recycelter Materialien.

Ökonomische und regulatorische Hindernisse

Klar: Der breite Durchbruch ist noch nicht erreicht. Dies ist hauptsächlich auf wirtschaftliche und vor allem regulatorische Hindernisse zurückzuführen. Die Analogie trifft aber zu: Der Chemiesektor könnte sich durchaus dort befinden, wo der Energiesektor vor einer Generation stand: am Rande eines systemischen Wandels. Ein Wandel hin zur erneuerbaren Kohlenstoffwirtschaft, der sowohl die Fortsetzung von Innovationen bei Produkten und Geschäftsmodellen als auch vor allem einen unterstützenden politischen Rahmen erfordert.

Die historischen Erfahrungen mit der Energiewende bieten zudem wichtige Anhaltspunkte: Ihr Erfolg beruhte auf drei sich gegenseitig verstärkenden Faktoren: Es sind eine konsequente politische Unterstützung, rasche technologische Fortschritte und eine gesellschaftlichen Neubewertung erneuerbarer Energiesysteme.

Aus Kunststoffabfällen im gelben Sack, die sich nicht sinnvoll mechanisch recyceln lassen, können per chemischen Recycling kohlenstoffhaltige Bausteine fiür neue Polymere gewonnen werden.

Foto: Smarterpix/Lukassek

Politische Unterstützung

Sobald der politische Rahmen das Investitionsrisiko verringert hatte, schritten Innovation und Skalierung rasch voran. Die Chemie benötigt nun einen ähnlichen Mechanismus: einen langfristigen, verlässlichen Rahmen, der Lösungen für erneuerbaren Kohlenstoff belohnt und zu fairen Wettbewerbsbedingungen führt, bei denen die externalisierten Kosten fossiler Kohlenstoffquellen internalisiert werden und somit die tatsächlichen Kosten des derzeitigen Systems besser sichtbar werden, womit sichtbar wird, dass es eigentlich die fossilen Lösungen sind, die in der Gesamtbetrachtung „teurer“ sind.

Wirksame Maßnahmen dazu könnten eine CO2-Bepreisung sein, die die tatsächlichen Umweltkosten widerspiegelt, oder eine verbindliche „Einspeisequote” für erneuerbaren Kohlenstoff für Materialien und Zwischenprodukte. Die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ von Oktober 2020 solch eine Quote von 20 % bis 2030 bereits angedacht. Allerdings ist das bislang nicht mehr als eine Idee.

Weitere Maßnahmen zur Förderung einer erneuerbaren Chemie könnten sein, eine transparente CO2-Bilanzierung sowie Anreize für zirkuläres Design und CO2-Abscheidungstechnologien unter Berücksichtigung der Vorteile der Nutzung widerstandsfähiger, die strategische Autonomie unterstützender Kohlenstoffquellen.

Diese Mechanismen würden eine ähnliche Marktvorhersehbarkeit und Investitionssicherheit für die Industrie schaffen wie 2001 die Einspeisevergütung im Energiesektor. Die Lehre aus der Geschichte ist klar: Innovation allein kann ein industrielles System nicht verändern; sie muss mit strukturellen Anreizen und einer langfristigen politischen Konsistenz einhergehen, insbesondere dann, wenn diese Innovationen eindeutig längerfristigen gesellschaftlichen Nutzen aufweisen – würden wir heute eine neue Technologie akzeptieren, die die Luft in Städten belastet und damit Menschenleben verkürzt?

Technologische Fortschritte

Nichtsdestotrotz ist Innovation von großer Bedeutung. Der Chemiesektor ist von Natur aus komplexer als der Energiesektor – man könnte bildlich argumentieren, dass wir uns von Elektronen, die für den Stromtransport verantwortlich sind, zu Wasserstoff und dann weiter durch das Periodensystem bewegen. Und das ist vielleicht der Grund für den großen Zeitunterschied zwischen der Transformation des Energiesektors und des Materialsektors.

Gleichzeitig bietet und erfordert diese Transformation erhebliche Innovationsmöglichkeiten und damit beispielsweise für die EU die Chance, seine in den letzten 20 Jahren verlorene Technologieführerschaft zurückzugewinnen. Die EU hat keinen intrinsischen Nachteil bei der Biomasseproduktion für biobasierte und bio-attribuierte Lösungen, sie hat keinen intrinsischen Nachteil bei der Erzeugung erneuerbarer Energien (hier treffen die beiden Sektoren aufeinander), und die EU ist nach wie vor die weltweit führende Region im Abfallmanagement (aus technologischer Sicht beim mechanischen Recycling, der Bandbreite der chemischen Recyclingtechnologien, der Sortierung und Sammlung sowie der Regulierung) und hat somit die Chance, bei der Verarbeitung dieses wichtigsten und widerstandsfähigsten Rohstoffs eine Führungsrolle zu übernehmen.

Es besteht also die einzigartige Situation, dass es bereits vorhandene und anwendbare Technologien für die Nutzung von Biomasse und industrielle Biotechnologie, mechanisches und chemisches Recycling sowie Kohlenstoffabscheidung und -nutzung gibt.

Gleichzeitig bestehen nach wie vor Bedarf und die Chance für substanzielle Innovationen in all diesen Bereichen. Zusammen bilden diese Wege die technologische Grundlage für einen geschlossenen Kohlenstoffkreislauf und einen globalen Wettbewerbsvorteil.

Aus Kohlenmonoxid (CO) und Kohlendioxid (CO2) aus der Abluft von Stahlwerken – wie hier eines am Seehafen Ijmuiden westlich von Amsterdam – können Chemieunternehmen neue Chemikalien herstellen.

Foto: Smarterpix/Tasfoto

Gesellschaftliche Neubewertung

Der dritte Punkt betrifft die gesellschaftliche Neubewertung. Die Grundlagen und Überzeugungen der Mehrheit haben sich bereits verändert. Die junge Generation fordert Lösungen zum Klimawandel und fossile Rohstoffe finden immer weniger Akzeptanz. Auf der anderen Seite findet das Konzept des erneuerbaren Kohlenstoffs immer mehr Beachtung und wird besser verstanden. So wie Solar-, Wind- und Wasserkraft der modernen Energiewende vorausgingen, hat die Chemie seit langem biobasierte Materialien, Fermentationsprozesse und Recyclingtechnologien erforscht. Die Grundlage für den Wandel ist vorhanden. Die echten Kosten der Nutzung fossiler Quellen werden immer deutlicher und damit zur relevanten Vergleichsgröße.

Die erneuerbare Kohlenstoffwirtschaft sieht ein zirkuläres Kohlenstoffsystem vor, in dem der gesamte in Chemikalien und Materialien verwendete Kohlenstoff aus erneuerbaren Quellen stammt – biogen, recycelt oder aus der Atmosphäre. Fossiler Kohlenstoff bleibt im Boden – und über zum Beispiel regenerative Modelle wird sogar wieder mehr Kohlenstoff in die Geo- und Biosphäre eingebracht werden.

Dieser Ansatz verändert chemische Wertschöpfungsketten und ermöglicht Produktionssysteme, die klimaneutral, ressourceneffizient und widerstandsfähig sind. Der Übergang von einem linearen, fossilen Fluss zu einem zirkulären Kohlenstoffkreislauf ist nicht nur eine ökologische Notwendigkeit, sondern auch eine industrielle Strategie für die Wettbewerbsfähigkeit in einer defossilisierten Wirtschaft.

Erneuerbare Chemie ist möglich

Die Erfahrungen mit der Energiewende zeigen, eine groß angelegte Transformation ist möglich, sobald Technologie, Politik und gesellschaftliche Prioritäten zueinander passen. Die Entwicklung wird sich dann verselbstständigen – auch gegen Widerstände.

Analoges gilt jetzt für die Welt der Materialien, die auf der chemischen Industrie beruhen. Die Grundlagen für eine Industrie auf Basis erneuerbarer Kohlenstoffe sind vorhanden; in Anbetracht der massiven Herausforderungen geht es jetzt darum, den richtigen Anschub zu liefern und damit die Transformation zu initiieren.

Nach der erfolgreichen Erneuerung der Energieerzeugung geht es jetzt um die Welt der Materialien – also quasi vom Elektron über den Wasserstoff zum Kohlenstoff, dem wichtigsten Element der modernen Werkstoffe. Die erneuerbare Kohlenstoffwirtschaft ist somit die logische Fortsetzung der nachhaltigen industriellen Transformation, die mit erneuerbaren Energien begann. Die Pioniere werden nicht nur mit einem guten Gewissen ihrer Kinder- und Enkelgeneration gegenüber, sondern auch ökonomisch belohnt werden.

1) Der VDEW fusionierte 2007 mit dem Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW), dem Verband der Verbundunternehmen und Regionalen Energieversorger in Deutschland (VRE) sowie dem Verband der Netzbetreiber (VDN) zum Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).

Von Lars Börger

Lars Börger ist CEO der nova-Institut für politische und ökologische Innovation GmbH
lars.boerger@nova-institut.de