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Globale Siemens-Studie vor der COP30 28.10.2025, 11:30 Uhr

Resilienz statt Idealismus – Energiesicherheit überholt Klimaziele

Nationale Energiesicherheit gilt heute für viele als wichtigster Treiber der Energiewende. Die Zuversicht, Dekarbonisierungsziele bis 2030 zu erreichen, sinkt deutlich. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Studie von Siemens im Vorfeld der Klimakonferenz COP30.

Energiesicherheit rückt immer stärker in den Vordergrund. Sind nun die Klimaziele bedroht? Foto: Smarterpix/oiramn

Energiesicherheit rückt immer stärker in den Vordergrund. Sind nun die Klimaziele bedroht?

Foto: Smarterpix/oiramn

Während die Welt auf die Klimakonferenz COP30 (10. bis 21. November 2025) in Brasilien blickt, verschiebt sich offenbar global der Fokus der Energiepolitik. Eine internationale Studie von Siemens Smart Infrastructure zeigt: Nationale Unabhängigkeit und Resilienz gelten mittlerweile als entscheidende Voraussetzungen für die Energiewende – und haben den Klimaschutz als Leitmotiv vieler Strategien überholt. Der „Infrastructure Transition Monitor 2025“, für den 1 400 Führungskräfte und Regierungsvertreterinnen und -vertreter aus 19 Ländern befragt wurden, zeigt einen klaren Trend: Energiesicherheit steht erstmals an der Spitze staatlicher Prioritäten, nachdem sie noch 2023 auf Rang 3 lag. Geopolitische Spannungen, volatile Märkte und unsichere Lieferketten haben das Bewusstsein für Risiken geschärft. Regierungen wollen verhindern, dass Energie zum politischen Druckmittel wird – und investieren daher verstärkt in Unabhängigkeit, Vorsorge und regionale Versorgung.

„Der Infrastrukturwandel tritt in eine neue Phase ein, in der die nationalen Ziele der Energiesicherheit wichtiger sind als die globale Zusammenarbeit zur Dekarbonisierung. Angesichts zunehmender Klima- und Energieherausforderungen ist Resilienz keine Option, sondern Notwendigkeit“, sagt Matthias Rebellius, Vorstandsmitglied der Siemens AG und CEO von Smart Infrastructure. Laut Rebellius spielt Künstliche Intelligenz (KI) dabei eine Schlüsselrolle. Sie ermögliche es, komplexe Energiesysteme effizient zu steuern, die Stabilität erneuerbarer Netze zu sichern und den Übergang zu sauberer Energie digital zu beschleunigen.

Die globale Transformation nähert sich regionaler Verantwortung an

Mehr als drei von fünf Befragten (62 %) gehen davon aus, dass zukünftige Energiesysteme stärker auf regionale Produktion und Speichertechnologien setzen werden. Der Glaube an offene Weltmärkte für Energie sinkt. Stattdessen rücken Netzausbau, Speicherkapazitäten und dezentrale Versorgung in den Mittelpunkt nationaler Strategien.

Bereits mehr als die Hälfte der Führungskräfte bewertet die eigene Energiestruktur als „resilient“ oder „weit entwickelt“ – ein deutlicher Hinweis darauf, dass viele Staaten ihre Infrastrukturpolitik neu ausrichten. Energieunabhängigkeit wird nicht mehr als Gegensatz zum Klimaschutz verstanden, sondern als dessen Voraussetzung.

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Gleichzeitig nimmt das Vertrauen in die Erreichbarkeit globaler Klimaziele spürbar ab. Nur noch 37 % der Befragten glauben, ihre Dekarbonisierungsziele bis 2030 zu erreichen – ein deutlicher Rückgang gegenüber 44 % im Jahr 2023. Mehr als die Hälfte rechnet sogar mit steigenden Investitionen in fossile Energien in den kommenden zwei Jahren.

Diese Entwicklung spiegelt ein neues Realismusverständnis wider: Statt großer internationaler Abkommen prägen nationale Energie- und Sicherheitsinteressen die Agenda. Siemens sieht darin kein Widerspruch, sondern eine Chance, Klimaschutz und Versorgungssicherheit gemeinsam zu denken.

Energiesicherheit: Digitalisierung als Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit

Trotz der politischen Verschiebung bleibt der technologische Fortschritt der entscheidende Hebel. In der Studie rangiert Digitalisierung als zweitwichtigster Faktor für den Erfolg der Energiewende – direkt hinter dem Ausbau von Energiespeichern.

Zwei Drittel der Befragten (66 %) schreiben der KI den größten positiven Einfluss auf die Stabilität kritischer Infrastrukturen zu. Knapp 60 % setzen KI bereits gezielt ein, um industrielle Prozesse zu dekarbonisieren oder Stromflüsse in Echtzeit zu optimieren.

Die Siemens-Studie sieht darin einen Wendepunkt: Digitale Technologien machen Energiesysteme nicht nur effizienter, sondern auch robuster. Intelligente Netze, automatisierte Steuerung und datenbasierte Prognosen können Engpässe verhindern und Schwankungen bei der Energieerzeugung ausgleichen – eine Grundvoraussetzung, um Versorgungssicherheit und Klimaschutz miteinander zu verbinden.

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Ohne Resilienz drohen Rückschläge

Mit Blick auf die bevorstehende Klimakonferenz bewertet Siemens die Ergebnisse als Warnsignal. Wenn Resilienz nicht integraler Bestandteil nationaler Strategien werde, drohten Rückschläge sowohl wirtschaftlicher als auch ökologischer Art. Die Energiewende könne nur gelingen, wenn politische Entscheiderinnen und Entscheider Netzinvestitionen, Digitalisierung und Klimaziele konsequent miteinander verzahnen.

„Es geht nicht mehr darum, ob Staaten resiliente Energiesysteme aufbauen, sondern wie schnell“, betont Rebellius. Je früher man Sicherheit und Nachhaltigkeit als gemeinsame Aufgabe begreife, desto stabiler werde der Weg zur Dekarbonisierung.

Von Elke von Rekowski