Zum E-Paper
Beste-verfügbare Techniken 01.10.2018, 00:00 Uhr

Grenzwerte und der Stand der Technik

Welche Grenzwerte müssten Unternehmen einhalten? Oder, anders gefragt, welche Werte dürfen Behörden gegenüber Unternehmen einfordern? Das VG Aachen hat geurteilt: Emissionsgrenzwerte, die nicht dem oberen Wert der Emissionsbandbreite von BVT-Schlussfolgerungen entsprechen, sind rechtswidrig (Urteil vom 11.10.2017 – 6 K 996/17).

Bild: kodda/PantherMedia

Bild: kodda/PantherMedia

Das VG Aachen hat mit Urteil vom 11.10.2017 die Rechtswidrigkeit einer nachträglichen Anordnung festgestellt, mit der Vollzugsempfehlungen der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Immissionsschutz (LAI) umgesetzt wurden. Dieses Urteil hat für Betreiber von Anlagen, die nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) genehmigungsbedürftig sind, weitreichende Auswirkungen. Die Betreiber sollten zukünftig nachträgliche Anordnungen der Behörden, die „strengere“ Grenzwerte im Vergleich zu den ursprünglich genehmigten Grenzwerten enthalten, kritisch auf deren Rechtmäßigkeit prüfen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist wie andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) entsprechend den Vorgaben der Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU) verpflichtet, den europäischen Stand der Technik aus sogn. „BVT-Schlussfolgerungen“ (BVT = Beste verfügbare Technik) umzusetzen. Anstatt konkreter Grenzwerte enthalten solche Schlussfolgerungen in der Regel Emissionsbandbreiten, die den Betrieb von Anlagen nach „besten verfügbaren Techniken“ als Wertebereich abbilden (z. B. 5 bis 25 mg/m3). Diese Schlussfolgerungen gelten aber nicht unmittelbar. Sie bedürfen der nationalen Umsetzung.

Bisher konnte zur Umsetzung der BVT-Schlussfolgerungen die Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA Luft) nicht wie geplant novelliert werden. Daher wurde die Bindungswirkung der TA Luft, die diese gegenüber Genehmigungsbehörden grundsätzlich entfaltet, in Einzelfällen aufgehoben. Den Behörden wurden vielmehr durch LAI-Vollzugsempfehlungen und Erlasse Vorgaben für Genehmigungen und nachträgliche Anordnungen nach § 17 BImSchG gemacht. In der Praxis bedeutete dies, dass in der Regel jeweils ein unterer Bereich der Emissionsbandbreiten als zukünftiger Grenzwert gegenüber den Anlagenbetreibern benannt wurde („schärfster Wert als Grenzwert“).

Emissionswerte im Überblick

Rechtsquelle Emissionsgrenzwert gasförmige anorganische Chlorverbindungen

Ursprünglicher Genehmigungsbescheid: 30 mg/m3

Nr. 5.2.4 TA Luft 2002: 30 mg/m3

BVT-Schlussfolgerung : 10 – 25 mg/m3

LAI-Vollzugsempfehlung: 20 mg/m3

Nachträgliche Anordnung: 20 mg/m3

(Nr. 5.2.4 Referentenentwurf Neufassung TA Luft Stand 16.07.2018): 30 mg/m3

Dieses Vorgehen der Verwaltung wurde vor dem Hintergrund von Wettbewerbsverzerrungen (etwaiger Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV) schon häufiger kritisiert und ist nun nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 11. Oktober 2017 (Az. 6 K 996/16) grundsätzlich rechtswidrig.

Hintergrund

Das VG Aachen (Az.: 6 K 996/17; Urteil v. 11.10.2017) musste sich mit einer Klage einer Anlagenbetreiberin, die eine Anlage zur Herstellung von Flachglas auf Grundlage eines immissionsrechtlichen Genehmigungsbescheides aus dem Jahre 1999 betreibt, befassen. Die Klägerin wandte sich mit ihrer Klage gegen die wesentliche Verschärfung eines Emissionsgrenzwerts. Der ursprüngliche Genehmigungsbescheid sah in den Nebenbestimmungen als Emissionsgrenzwert für gasförmige anorganische Chlorverbindungen – angegeben als HCI – im Abgas des Glasschmelzofens der Floatanlage eine Massenkonzentration von 30 mg/m3 vor. Dieser HCl-Emissionsgrenzwert entsprach seinerzeit der Vorsorgeanforderung in Nr. 3.1.6 TA Luft 1986, nunmehr Nr. 5.2.4 TA Luft 2002.

Mit Veröffentlichung im Bundesanzeiger im Januar 2014 gab das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit bekannt, dass sich der Stand der Technik zwischenzeitlich fortentwickelt habe und Nr. 5.2.4 TA Luft deshalb ihre Bindungswirkung verliere.

Dies nahm das Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen zum Anlass und wies die nachgeordneten Behörden mit Erlass vom 07. April 2015 darauf hin, dass die LAI Vollzugsempfehlungen unter anderem für Anlagen zur Glasherstellung mit Stand vom 12. November 2013 erarbeitet habe. Die LAI-Vollzugsempfehlungen sahen einen verminderten HCI-Emissionsgrenzwert von 20 mg/m3 vor. Nach Willen des Ministeriums sollte dieser Grenzwert nunmehr in Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden. Bei bestehenden Anlagen sollten die Anforderungen der LAI-Vollzugsempfehlungen ebenfalls umgesetzt werden.

BVT-Merkblätter und BVT-Schlussfolgerungen:

Der Standard der „besten verfügbaren Techniken“ (BVT) bildet das europarechtliche Gegenstück zum deutschen „Stand der Technik“. Für bestimmte Tätigkeiten werden die BVT im Sinne der Industrieemissions-Richtlinie in BVT-Merkblättern konkretisiert. Die Erstellung der BVT-Merkblätter erfolgt in dem sogenannten Sevilla-Prozess, einem Informationsaustausch, an dem Vertreter der EU-Kommission, der Mitgliedstaaten, der betroffenen Industriezweige und der Umweltorganisationen mitwirken. Den wichtigsten Teil der BVT-Merkblätter bilden die BVT-Schlussfolgerungen, weil sie hinsichtlich der Emissionswerte verbindlich sind bzw. durch untergesetzliche Regelungen bzw. durch Einzelfallentscheidungen für verbindlich erklärt werden. Die Umsetzung der BVT-Schlussfolgerunen erfolgt in Deutschland durch Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften, in Nebenbestimmungen einer Genehmigung bzw. in nachträglichen Anordnungen. Eine Übersicht der Veröffentlichungen der BVT-Merkblätter findet sich im Internet unter „eippcb.jrc.ec.europa.eu/ reference/“.

Gegen diese Anordnung wandte sich der Anlagenbetreiber und erhob Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht.

Der Anlagenbetreiber empfand den nachträglich angeordneten HCl-Grenzwert von 20 mg/m3 im Wesentlichen als willkürlich. Die Behörde habe bei der Festlegung von Emissionsbegrenzungen ohne Einräumung eines Ermessens nur sicherstellen dürfen, dass die in den BVT-Merkblättern genannten Emissionsbandbreiten nicht überschritten würden. Diese ließen aber einen Spielraum zwischen 10 – 25 mg/m³ zu. Die Behörde habe daher keinen geringeren Emissionsgrenzwert als 25 mg/m3 festlegen dürfen, da eine nachvollziehbare Begründung für die Festlegung auf 20 mg/m³ fehle.

Rechtswidrigkeit der nachträglichen Anordnung und allgemeine Bedeutung für genehmigungsbedürftige Anlagen

Das VG Aachen entschied, dass die nachträgliche Anordnung des HCI-Emissionsgrenzwertes von 20 mg/m3 und die Zwangsmittelandrohung rechtswidrig waren. In der Urteilsbegründung wurde – zusammengefasst – folgendes ausgeführt:

Genehmigungsbedürftige Anlagen seien zwar nach dem sich aus § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG ergebenden Vorsorgegrundsatz entsprechend dem Stand der Technik zu betreiben. Jedoch sei nicht nachvollziehbar, dass der angeordnete verminderte Emissionsgrenzwert den Stand der Technik widerspiegelt.

Der unbestimmte Rechtsbegriff „Stand der Technik“ werde durch die TA Luft für gerichtliche Verfahren beachtlich konkretisiert. Von den in der TA Luft niedergelegten Standards dürfe daher nur in Ausnahmefällen abgewichen werden, „[…] wenn gesicherte Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik den ihnen zugrunde liegenden Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen den Boden entziehen.“

Die Vorsorgeanforderung der TA Luft hinsichtlich der Massenkonzentration von gasförmigen anorganischen Chlorverbindungen entspricht auch nach Ansicht des VG Aachen nicht mehr dem Stand der Technik. Maßgeblich gestützt wird diese Annahme durch den Umstand, dass die BVT-Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission für die Herstellung von Glas eine Emissionsbandbreite für die HCI-Emissionen in der Flachglasbranche von 10 bis 25 mg/m3, also unterhalb des in der TA Luft festgesetzten Wertes, festlegt.

Sobald Emissionswerte einer Verwaltungsvorschrift nicht mehr dem Stand der Technik entsprächen, habe die Behörde bei ihren Einzelfallentscheidungen in eigener Verantwortung den Stand der Technik zu ermitteln. Die Werte dürften hierbei die in den BVT-Schlussfolgerungen genannten Bandbreiten nicht überschreiten. Es könne zwar grundsätzlich zulässig sein, die volle Bandbreite nicht auszuschöpfen, die Behörde habe dann allerdings darzulegen, dass der verminderte Grenzwert den Stand der Technik abbilde. Gelinge der Behörde dieser Nachweis nicht, so sei eine Festsetzung unterhalb des nach den BVT-Schlussfolgerungen zulässigen obersten Grenzwertes unverhältnismäßig.

Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der nachträglichen Festsetzung der Emissionsgrenzwerte für Emissionen von Kohlenmonoxid, Schwefeloxid sowie Fluor und seinen gasförmigen anorganischen Verbindungen teilte das Verwaltungsgericht nicht. Insbesondere liege kein Verstoß gegen die Öffentlichkeitsbeteiligung vor, da eine solche nur vor dem Erlass einer nachträglichen Anordnung nach § 17 Abs. 1 S. 2 BImSchG erfolgen solle. Die in Rede stehende nachträgliche Anordnung sei jedoch eine Vorsorgeanordnung nach § 17 Abs. 1 S. 1 BImSchG und von einer Schutz- oder Gefahrenanordnung nach § 17 Abs. 1 S. 2 BImSchG zu unterscheiden.

Fazit

Das VG Aachen stärkt durch das Urteil die Rolle der Europäischen Union bei der Festlegung von Emissionsgrenzwerten für die Industrie und trägt zur Harmonisierung von europaweiten Wettbewerbsbedingungen bei. Es weist nachvollziehbar den europäischen BVT-Schlussfolgerungen einen Vorrang vor den nationalen LAI-Vollzugsempfehlungen zu.

Immissionsschutzbehörden dürften in der Folge regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten haben, einen Emissionsgrenzwert anzuordnen, der nicht dem oberen Wert der Emissionsbandbreite der BVT-Schlussfolgerungen entspricht. Für den Fall, dass die Behörden einen „strengeren“ Grenzwert umsetzen wollen, dürfte es in Zukunft erforderlich sein, ggf. Sachverständigengutachten einzuholen, die ein entsprechendes Vorgehen begründen. Nachträglich festgesetzte Emissionsgrenzwerte sollten vor diesem Hintergrund künftig noch genauer von den Anlagenbetreibern geprüft werden. Auf die verwaltungsrechtliche Frist eines Widerspruchs gegen die behördlichen Anordnungen ist zu achten.

Von Stefan Hüsemann & Neels Lamschus

Dipl.-Ing. Stefan Hüsemann, Umweltgutachter (DEV 0347) sowie Sachverständiger für Treibhausgasemissionen und Genehmigungsverfahren im Umweltbereich, Betreuungsgesellschaft für Umweltfragen Dr. Poppe AG, e: huesemann@bfu-ag.de; w: bfu-ag.de Rechtsanwalt Neels Lamschus, Dr. Poppe -Rechtsanwälte-, lamschus@dr-poppe-rae.de; dr-poppe-rae.de