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Arbeitsschutz 01.12.2019, 00:00 Uhr

Das Titandioxid-Dilemma

Im September 2017 hat der Risikobewertungsausschuss der Europäischen Chemikalienagentur für Titandioxid die Einstufung „Kann vermutlich Krebs erzeugen“ vorgeschlagen. Dies sorgte für Wirbel in der Wirtschaft. Denn Titandioxid ist das wichtigste auf dem Markt befindliche Weißpigment. Der Ausschuss beschränkt seine Bewertung zwar auf das Einatmen lungengängiger Partikel. Dennoch befürchtet die Industrie Einschränkungen für die Verwendung von Titandioxid, die über das Ziel hinausschießen.

Eine Absaugeinrichtung für Stäube. Bild: BAuA/Fox

Eine Absaugeinrichtung für Stäube. Bild: BAuA/Fox

Die Regelungen zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von chemischen Stoffen und Gemischen bestehen seit 1967 und gehören zu den ältesten in der Europäischen Union. In Folge einer globalen Harmonisierung, die durch den UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg 2001 angestoßen wurde, sind die früheren Richtlinien durch die „CLP-Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen“ abgelöst worden. Die Abkürzung „CLP“ steht für „Classification“, „Labelling“ und „Packaging“.

Mit dieser Verordnung wurden die orangefarbenen Gefahrensymbole durch rot umrandete Gefahrenpiktogramme ersetzt und auch die Kriterien zur Einstufung in der EU entsprechen jetzt den internationalen Standards. Das Ziel war, die gefährlichen Eigenschaften eines Stoffes auf Grundlage von Prüfungen und Literaturdaten bestimmten Gefahrenkategorien zuzuordnen. In diesem Zusammenhang schreibt die EU-Chemikalienverordnung Reach für Hersteller und Importeure chemischer Stoffe gestaffelte Prüfpflichten vor.

Titandioxid in Nanoform: Die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt Titandioxid-Pulver mit einer 20.000 fachen Vergrößerung. Zu sehen ist ein Agglomerat aus nanoskaligen Titandioxid-­Partikeln mit einem Durchmesser von meist weniger als 50 nm. Bild: BAuA

Titandioxid in Nanoform: Die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt Titandioxid-Pulver mit einer 20.000 fachen Vergrößerung. Zu sehen ist ein Agglomerat aus nanoskaligen Titandioxid-­Partikeln mit einem Durchmesser von meist weniger als 50 nm. Bild: BAuA

Einstufung

Die Hersteller eines Stoffes – also die Akteure am Anfang der Lieferkette – müssen die vorhandenen Daten auswerten und ihre Stoffe damit nach den Kriterien der CLP-Verordnung einstufen. Die Einstufung eines Stoffes wirkt sich auch auf Gemische aus, in denen der Stoff enthalten ist. Für krebserzeugende Stoffe der Kategorie 2 ist zum Beispiel jedes Gemisch, das mehr als ein Prozent des Stoffes enthält, auch als „Karzinogen Kat. 2“ einzustufen und mit dem Gefahrensymbol „Torso“ zu kennzeichnen.

Doch nicht selten wird der gleiche Stoff unterschiedlich eingestuft. Dies kann eine Folge der Recherchetiefe sein, mit Interpretationsspielräumen bei Prüfergebnissen zusammenhängen oder durch produktionsbedingte Verunreinigungen verursacht sein. Um den Schutz der menschlichen Gesundheit sicherzustellen und Verwirrung durch unterschiedliche Einstufungen zu vermeiden, gibt es in der EU für besonders gravierende gefährliche Eigenschaften die Möglichkeit, eine harmonisierte Einstufung festzulegen. Das betrifft vor allem Stoffe mit krebserzeugenden, erbgutverändernden oder fortpflanzungsgefährdenden Eigenschaften.

Einstufung harmonisiert

Unter Federführung eines EU-Mitgliedsstaates wird für einen betroffenen Stoff ein Dossier erstellt, das eine Auswertung der Prüfergebnisse und sonstiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Gefahreneigenschaften beinhaltet. Dieses Dossier wird dann mit den Kommentaren einer 60-tägigen öffentlichen Konsultation im Risikobewertungsausschuss, kurz RAC (Risk Assessment Committee), der Europäischen Chemikalienagentur sorgfältig auf seine wissenschaftliche Belastbarkeit geprüft und mit einer Einstufungsempfehlung an die Europäische Kommission weitergeleitet. Der RAC setzt sich aus unabhängigen und hochqualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen, die zwar von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen wurden, aber nicht weisungsgebunden sind. Auf Basis der RAC-Stellungnahme leitet die EU-Kommission ein Gesetzgebungsverfahren zur Einstufung ein, an dem in einem späteren Schritt auch EU-Parlament und -Rat beteiligt werden. Am Ende steht die Bekanntmachung der harmonisierten Einstufung im Amtsblatt der EU.

Dieses Piktogramm warnt vor Gesundheits­gefahren wie etwa durch lungengängigen Titandioxid-Staub. Bild: UN/GHS

Dieses Piktogramm warnt vor Gesundheits­gefahren wie etwa durch lungengängigen Titandioxid-Staub. Bild: UN/GHS

 

Der Stoff

Titandioxid (TiO2) ist eine wirtschaftlich bedeutende Industriechemikalie. Der bekannteste und größte Anwendungsbereich ist die Verwendung als Weißpigment in Anstrichfarben, aber auch der Einsatz in Kunststoffen hat enorme Marktbedeutung.

Der Einstufungsvorschlag

Frankreich hat im Mai 2016 der EU-Kommission einen Vorschlag zur harmonisierten Einstufung von Titandioxid als krebserzeugend Kat. 1 B „Kann beim Einatmen Krebs erzeugend“ vorgelegt. Dies war ein Präzedenzfall, da die gefährlichen Eigenschaften nicht spezifisch für Titandioxid sind, sondern schwerlösliche Partikel betreffen, die durch Einatmen in die tiefe Lunge gelangen können und sich dort anreichern. Partikel mit diesen Eigenschaften werden allgemein als „granuläre biobeständige Stäube“ (GBS) bezeichnet. Sie wurden lange Zeit als unschädlich für Mensch und Umwelt angesehen.

Neue Erkenntnisse

Erst in den letzten drei Jahrzehnten verdichteten sich Erkenntnisse, dass GBS zu Atemwegserkrankungen führen können, wenn sie über einen längeren Zeitraum in hoher Konzentration eingeatmet wurden. Dies betrifft nicht nur Titandioxid, sondern auch andere schwerlösliche Partikel, wie z.B. Ruß. Ausschlaggebend für die langfristig zu beobachtende chronische Entzündung in der Lunge ist die Schwerlöslichkeit im Lungenmilieu (Biobeständigkeit) und eine Partikelgröße unter vier Mikrometer, gemessen als Median des aerodynamischen Durchmessers. Diese Staubfraktion, die für das bloße Auge nicht sichtbar ist, wird als alveolengängig (A-Staub) bezeichnet. In Tierexperimenten wurden nach langer, hoher Exposition Lungentumore beobachtet. Die Stärke der kanzerogenen Wirkung ist allerdings im Vergleich zu anderen Krebs erzeugenden Stoffen eher als gering einzuschätzen.

Titandioxid-Staubpartikel in Nanometergröße auf einem Probensammler. Bild: BAuA

Titandioxid-Staubpartikel in Nanometergröße auf einem Probensammler. Bild: BAuA

Neue Erkenntnisse

Erst in den letzten drei Jahrzehnten verdichteten sich Erkenntnisse, dass GBS zu Atemwegserkrankungen führen können, wenn sie über einen längeren Zeitraum in hoher Konzentration eingeatmet wurden. Dies betrifft nicht nur Titandioxid, sondern auch andere schwerlösliche Partikel wie Ruß. Ausschlaggebend für die langfristig zu beobachtende chronische Entzündung in der Lunge ist die Schwerlöslichkeit im Lungenmilieu (Stichwort: Biobeständigkeit) und eine Partikelgröße unter vier Mikrometer, gemessen als Median des aerodynamischen Durchmessers. Diese Staubfraktion, die für das bloße Auge nicht sichtbar ist, wird als alveolengängiger Staub – sogenannter „A-Staub“ – bezeichnet. In Tierexperimenten wurden nach langer, hoher Exposition Lungentumore beobachtet. Die Stärke der kanzerogenen Wirkung ist allerdings im Vergleich zu anderen Krebs erzeugenden Stoffen eher als gering einzuschätzen.

Arbeitsschutz

An Arbeitsplätzen ist schon länger bekannt, dass GBS bei hoher chronischer Belastung Atemwegserkrankungen verursachen können. Dies hat in Deutschland schon länger intensive Bestrebungen um Maßnahmen zur Risikominderung ausgelöst. Der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) hat für Deutschland einen „Allgemeinen Staubgrenzwert“ für lungengängigen Staub am Arbeitsplatz von 1,25 mg/m3 festgelegt – unabhängig von der chemischen Identität des jeweiligen GBS-Materials. Dieser Wert kann im Regelfall durch technische Maßnahmen wie Absaugung am Entstehungsort gut eingehalten werden und bietet einen sicheren Schutz vor staubbedingten Erkrankungen. Deutschland hat daher bei der aktuellen TiO2-Diskussion vorgeschlagen, anstelle einer stoffspezifischen harmonisierten Einstufung generelle Regelungen zum Schutz vor granulären biobeständigen Stäuben im europäischen Arbeitsschutzrecht anzustreben – unter anderem mit einen bindenden Arbeitsplatzgrenzwert.

Der Ausschuss

Im September 2017 hat der RAC das von Frankreich vorgelegte Dossier bewertet. Die Fachleute haben im Konsens und abweichend vom französischen Vorschlag beschlossen, Titandioxid nur als Karzinogen der Kategorie 2 (krebsverdächtig) einzustufen in Verbindung mit dem Gefahrenhinweis „Kann vermutlich Krebs erzeugen“. Trotzdem war die Industrie alarmiert. Sie fürchtete, dass in Zukunft jedes weiße Farbgebinde als krebsverdächtig zu kennzeichnen wäre. Darüber hinaus drohen Folgeregelungen vor allem im Abfallrecht. Im Hinblick auf mögliche Risiken wurden dies als ungerechtfertigt angesehen. Bei der Bewertung hatte der RAC ergänzend festgestellt, dass die Einstufung als Karzinogen Kat 2 nur für den Stoff in lungengängiger Form gilt.

Überfordertes Recht

Eine solche Unterscheidung lässt die Verordnung eigentlich nicht zu. Eine Einstufung bezieht sich generell auf einen Stoff unabhängig von seiner äußeren Erscheinungsform. Damit stand die EU-Kommission vor einem Dilemma. Wie sollte die wissenschaftliche Aussage inhaltlich korrekt in der Rechtsvorschrift umgesetzt werden?

Die EU-Kommission

Der RAC wurde unter anderem geschaffen, um die EU-Kommission bei Einstufungsfragen fachlich zu unterstützen. Für die Kommission hat daher ein Einstufungsvorschlag des RAC quasi bindenden Charakter und wird generell im Anhang VI der CLP-VO umgesetzt. Die Kommission hat daher den Einstufungsvorschlag mit dem Ziel konkretisiert, nur pulverförmiges TiO2 und entsprechende Gemische als Karzinogen Kat 2 einzustufen und entsprechend mit dem Torso und dem Gefahrenhinweis „Kann bei Einatmen vermutlich Krebs erzeugen“ zu kenn- zeichnen. Bei flüssigen Gemischen wie Farben soll nur mit einem anderen Gefahrenhinweis auf dem Etikett ausschließlich vor dem Einatmen von Partikeln bei Sprühanwendungen gewarnt werden.

Präzedenzfall

Dieses Konstrukt ist ein Präzedenzfall in der harmonisierten Einstufung. Es darf daher bezweifelt werden, dass die regulatorische Umsetzung der Einstufung von Anwendern gut verstanden wird. In der öffentlichen Wahrnehmung wirkt sich eine Einstufung als Karzinogen Kat 2 zumeist dennoch auf alle Anwendungen eines Stoffes aus. Dies betrifft bei Titandioxid dann möglicherweise auch Gefährdungen, die durch die Einstufung gar nicht adressiert werden sollen, wie etwa Verschlucken oder Hautkontakt bei der Anwendung in Sonnenschutzmitteln oder als Lebensmittelzusatzstoff. Hinzu kommt, dass nachgeschaltete Regelwerke auf die spezifische Eingrenzung der Einstufung nur unter großem Aufwand reagieren können. Deutschland ist mit dem modifizierten Einstufungsvorschlag nicht einverstanden und lehnt die 14. Änderung der CLP-­Verordnung im delegierten Rechtsakt ab. Es steht aber zu befürchten, dass der Kommissionsvorschlag in Europaparlament und -rat nicht auf nennenswerten Widerstand stößt.

Grenzen des Stoffrechts

Das Beispiel Titandioxid zeigt, dass ein „Stoffrecht“ an Grenzen gerät, wenn die gefährlichen Eigenschaften eines Stoffes nur unter ganz spezifischen Randbedingungen zum Problem werden. Nicht nur in diesem Fall, sondern bei einer Vielzahl von weiteren Materialien sind Gesundheitsrisiken erst die Folge einer Freisetzung von Partikeln und Fasern beispielsweise durch Bearbeitung. Darüber hinaus sind für GBS in diesen Fällen nicht die „Chemie“, sondern die Form der Partikel und deren Biobeständigkeit in der Lunge ausschlaggebend. Nötig ist daher eine Anpassung der rechtlichen Vorgaben, mit der solche Eigenschaften gezielt und risikobezogen adressiert und in der Lieferkette kommuniziert werden können. 

Der Einstufungskrimi

Die EU-Kommission hat am 4. Oktober 2019 die Einstufung von Titandioxid beschlossen. Dabei hat sie den Anwendungsbereich der Einstufung quasi in letzter Minute noch einmal erweitert: Der Entscheidung zufolge soll nicht nur pulverförmiges Titandioxid als Gefahrstoff eingestuft werden. Vielmehr gilt die Einstufung auch für pulverförmige Gemische, deren Partikel Titandioxid enthalten, wenn der Titandioxid-Anteil 1 % oder mehr beträgt. Davon sind insbesondere die Pulverlacke betroffen, aber auch Trockenmischungen für Putze und Mörtel. Diese Produkte müssen ab Sommer 2021 neben dem Gefahren-Piktogramm „GHS08“ den Hinweis „Kann vermutlich Krebs erzeugen durch Einatmen“ tragen. Neben der Einstufung soll für flüssige Farben, Lacke und Druckfarben ein Warnhinweis obligatorisch werden, der vor dem Sprühen warnt, auch wenn die Produkte gar nicht für Sprühanwendungen geeignet sind. Nach dem neuen Verfahren der Delegierten Rechtsakte kann die Kommission selbst über eine Einstufung entscheiden. Das ist die Folge der Anpassung der technischen Gesetzgebung an den Vertrag von Lissabon. Die Mitgliedstaaten und das Parlament können gegen den Vorschlag nur Einspruch einlegen und haben dafür zwei Monate Zeit. Noch ist unklar, wie die Diskussion im Rat verläuft. Allerdings braucht es eine qualifizierte Mehrheit im Rat für einen Einspruch gegen die Einstufung, was eine sehr hohe Hürde ist. Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass die Entscheidung letztendlich von den Gerichten überprüft wird. Wie kaum ein Fall zuvor hat das Verfahren die Schwächen des europäischen Entscheidungsprozesses im Rahmen der Chemikalienregulierung offengelegt: Angefangen hatte alles mit der politisch motivierten Initiative Frankreichs, das bestrebt ist, seine Anti-Nano-Politik zu exportieren. Das Expertengremium „Caracal“ der Europäischen Chemikalienagentur sah sich wiederum nicht im Stande, der eigenen toxikologischen Bewertung von Titandioxid als „nicht intrinsisch im klassischen Sinne“ auch Taten folgen zu lassen und eine Einstufung abzulehnen. Diese Arbeitsebene der Kommission zeichnete sich dadurch aus, dass sie krampfhaft bemüht war, das bisherige System des „Durchwinkens“ von Einstufungsvorschlägen zu retten – unter Ausblendung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen und der Rechtmäßigkeit des Vorschlags sowie des Widerstands einer Mehrheit der Mitgliedstaaten. Es bleibt zu hoffen, dass die europäischen Gerichte bei einer Überprüfung der Einstufung dieser Praxis in Zukunft einen Riegel vorschieben und die Kommission daran erinnern, dass sie einen eigenständigen Ermessensspielraum hat und diesen auch nutzen muss. Außerdem kann die neue Kommission unter Ursula von der Leyen zeigen, dass sie bereit ist, die Versprechen der „Besseren Rechtsetzung“ in der Praxis umzusetzen. Also besser ein Ende mit (Er-)Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

 

 

Von Rolf Packroff, Thomas Gebel, Rüdiger Pipke & Sabine Darschnik

Thomas Gebel, Rüdiger Pipke & Sabine Darschnik, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) info-zentrum@baua.bund.de