Chemikaliensicherheit 01.06.2019, 00:00 Uhr

Chemieproduktion verdoppelt sich weltweit

Diese Kernaussage trifft der zweite Global Chemicals Outlook (GCO2), den das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UN Environment, UNEP) im April 2019 vorgelegt hat.

Einen letzte Belehrung vor dem Pestizideinsatz auf einem Feld in Benin. Bild: UN Environment

Einen letzte Belehrung vor dem Pestizideinsatz auf einem Feld in Benin. Bild: UN Environment

Die Weltumweltversammlung UNEA (United Nations Environment Assembly) hat 2016 eine Fortschreibung der ersten GCO-Ausgabe von 2013 in Auftrag gegeben. Nach fast drei Jahren intensiver Arbeit von mehr als 400 Fachleuten liegt nun eine Gesamtschau des weltweiten Umgangs mit Chemikalien vor. Sie ist solide, umfassend und vorausschauend – wie keine Publikation zuvor. Sie macht zentrale globale Megatrends wie die sogenannte chemische Intensivierung deutlich und leistet die überfällige breite Verknüpfung zwischen chemikalienbasierter Ökonomie und nachhaltiger Entwicklung. Indem der GCO2 die bestehenden Probleme und enormen Herausforderungen aufgrund der globalen Megatrends einerseits aufzeigt, und auf der anderen Seite die zahlreichen bestehenden Werkzeuge sowie mögliche Wege zur Bewältigung dieser großen Herausforderungen, richtet er sich tatsächlich an alle, die in ihrem Beruf oder als Verbraucher direkt oder mittelbar mit Chemikalien zu tun haben. Und wer wäre das nicht?

Innovationen gesucht

Der GCO2-Untertitel lautet „Von Hinterlassenschaften zu innovativen Lösungen“. Dies sagt deutlich, worum es geht: zur Verhinderung neuer wie auch zur Beseitigung bisheriger Schäden, ebenso für die Bewältigung der weiter zunehmenden Herausforderungen müssen die Beteiligten und Betroffenen auf allen Ebenen erheblich ambitionierter zusammenwirken. Dabei sind Innovation und neues Denken Treiber für die notwendige Transformation zu nachhaltigem Chemikalienmanagement und zu umfassend nachhaltigen Lösungen mit Chemikalien – wohlgemerkt, ohne bisher zweifellos Erreichtes und die existierenden bewährten Instrumente in Frage zu stellen. Dringend gefragt sind aber beim Einsatz dieser Instrumente mehr Wirksamkeit, mehr Kohärenz und mehr Integration auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung. Klimawandel, Ressourcenverknappung, Artenschwund oder Plastikmüll sind in aller Munde und genießen höchste politische Aufmerksamkeit – bisher aber nicht Chemikalien und der Umgang mit ihnen, obwohl sie genauso bedeutsam für uns alle sind. Im Vorwort zum GCO2 sagt Joyce Msuya, die amtierende Exekutivdirektorin von UNEP sehr treffend: „Wir können nicht ohne Chemikalien leben. Genauso wenig können wir mit den Folgen ihres schlechten Managements leben.“ Sie hofft deshalb, dass der GCO2 uns alle zu verstärkten Anstrengungen inspiriert, die Leistungen von Chemikalien sicher und zum Wohle der gesamten Menschheit zu nutzen. Und tatsächlich gibt der GCO2 sehr deutliche Hinweise wie das möglich ist – wenn eben nicht nur alle so weitermachen wie gewohnt!

Giftige Chemikalien aller Art in einem kleinen Shop im Irak. Bild: UN Environment

Giftige Chemikalien aller Art in einem kleinen Shop im Irak. Bild: UN Environment

 

Zentrale Megatrends

Wie wir Chemikalien designen, herstellen, transportieren, verwenden, wiederverwenden und entsorgen, wird sich als zunehmend zentral für den Erfolg der Menschheit in der Sicherung einer lebenswerten Zukunft erweisen. Dies schließt unsere Fähigkeit ein, die Ziele der 2015 von den Vereinten Nationen vereinbarten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Wie der GCO2 sehr anschaulich zeigt beeindrucken die globalen Zahlen der Chemieindustrie: Nachdem Produktionskapazitäten und Umsatz sich von 2000 bis 2017 ungefähr verdoppelten, ist bis 2030 praktisch eine erneute Umsatzverdopplung von 3,47 auf dann zirka 6,6 Billionen Euro vorhergesagt. Bemerkenswert ist dabei die schnelle Verschiebung nach Asien (57,3 Prozent in 2017 auf 64,6 Prozent in 2030; die korrespondierenden Anteile für China sind 37,2 und 49,9 Prozent). Umkreist man auf einer Weltkarte China und Indien, so leben innerhalb dieses Kreises schon heute mehr Menschen als auf der gesamten übrigen Welt. Viele der Länder in diesem Kreis erfahren seit einigen Jahren eine dynamische Entwicklung der Wirtschaft. Breite Teile ihrer Bevölkerungen ziehen in schnell wachsende Städte und drängen begierig auf ihre Teilhabe an ebenso dynamisch wachsenden Konsummärkten. Es ist aber nicht nur das Wachstum der wirtschaftenden und konsumierenden Mittelschichten, die sogenannte chemische Intensivierung wird in weiteren Schlüsselzahlen deutlich: indexiert man Weltbevölkerung und globale Chemikalienproduktion 1990 jeweils auf 100, so landen die Vorhersagen für die Weltbevölkerung 2030 bei 160, für die Chemikalienproduktion dagegen bei 387! Zahl, Mengen und Anwendungsvielfalt von Chemikalien nehmen also offensichtlich überproportional zu. Das mag für den Nutzen Chemikalien-basierter Erzeugnisse und Dienstleitungen ebenso sein, ganz sicher gilt es aber für die Anforderungen an adäquates Chemikalienmanagement überall auf der Welt.

In Ballen gepresster Plastikmüll in Argentinien. Bild: UN Environment

In Ballen gepresster Plastikmüll in Argentinien. Bild: UN Environment

Leitlinien für die Zukunft

Zehn wichtige Handlungsfelder können laut GCO2 die Zukunftsfähigkeit im Umgang mit Chemikalien sichern. Dies betrifft neben solider Anwendung und Weiterentwicklung bewährter Werkzeuge wie Risikobewertung und Risikomanagement auch die umfassende Transformation zu neuen Ansätzen wie konsequentem Denken in kompletten Lebenszyklen, Ausbildung und Innovationen im Sinne grüner und nachhaltiger Chemie. Ergänzend zu diesen inhaltlichen Entwicklungsnotwendigkeiten betreffen viele Handlungsfelder auch wirksamere Steuerungssysteme, die zentrale Elemente eines wirksamen Chemikalienmanagements stärken: Kapazitätsaufbau, Kohärenz, Transparenz und Informationsweitergabe, Fortschrittsmessung, die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und politischen Entscheidungen sowie Verpflichtung und Ambition auf höchster politischer Ebene.

Pflichtlektüre für jeden

Sich eingehender mit dem GCO2 zu befassen, sollte daher für alle zu einem Herzensanliegen werden. Die 700 Seiten umfassende Vollversion wird alle diejenigen anziehen, die in Details gehen und diese nachvollziehen wollen. Empfehlenswert als gut lesbare kompakte Erschließung dieser Vollversion ist der Synthesis Report mit zehn Schlüsselerkenntnissen und zahlreichen Grafiken, Fotos, Tabellen und Infoboxen. Diesre enthält auch die Empfehlungen zu zehn zentralen Handlungsfeldern, die in der bereits für UNEA4 vorab erstellten Zusammenfassung für Entscheidungsträger in allen sechs UN-Sprachen publiziert wurde.

Wirtschaft und Entwicklung

Einige schlaue Köpfe schlagen so etwas wie einen Green New Deal vor. Etwas vereinfacht gesagt werben sie dafür, die großen Herausforderungen unserer Zeit durch Innovation und wirtschaftliche Investitionen in Ansätze anzugehen, die sowohl erfolgreiche Geschäftsmodelle sein können als auch die Transformation zu einer Wirtschaft im Sinne der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung anführen. Zeitnaher Einstieg in die Transformation zur Nachhaltigkeit würde relativ geringe Mehrkosten verursachen und langfristig Kosten reduzieren, konstatiert Hans-Joachim Schellnhuber, ehemaliger Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) mit Kollegen in einem Gastkommentar im Handelsblatt. Und Marco Mensik, Chef des europäischen Chemieverbands CEFIC, sagte Ende März bei einer Veranstaltung in Brüssel, Kreislaufwirtschaft und Innovation seien der Schlüssel zur Zukunft der europäischen Chemieindustrie. Um in einer zunehmend fragmentierten Welt zu gedeihen, solle sie von sich aus die passenden Lösungen entwickeln und dabei ihre Aktivitäten mit denjenigen anderer Sektoren integrieren statt über regulatorische Bürden zu klagen. Dies könnte zu einigen Kernbotschaften des GCO2 passen und man darf gespannt sein auf die seitens CEFIC zum 25.06.2019 angekündigte mid-century Strategie der europäischen Chemieindustrie.

Weil der Autor dieses Artikels keinerlei Kompetenzen als Unternehmer oder anderweitig direkt im Wirtschaftsleben schwimmender Fisch reklamieren kann, lässt er sich gerne erläutern, warum die zitierten Überlegungen zu einem Green New Deal für chemikalienbasiertes Wirtschaften keine gute Idee sein sollten – noch lieber hilft er Argumente zu verbreiten, warum sie angesichts der Erkenntnisse des GCO2 genau das sind, was wir brauchen.

https://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/28113/GCOII.pdf

Von Hans-Christian Stolzenberg

Hans-Christian Stolzenberg, UBA hans-chr.stolzenberg@uba.de