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KI für die Supply Chain 02.02.2023, 18:56 Uhr

Smarte Navigation für die Frachtschifffahrt

Die Supply Chain Krise beschränkt sich momentan nicht auf ein einzelnes Problem, sondern umfasst einen ganzen Katalog an logistischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Betroffen sind sowohl Zulieferer als auch Transport- und Logistikunternehmen. KI gilt hier als die Lösung, um komplexe Transportketten zu managen. Das graphbasierte maritime Routingsystem von OrbitMI macht vor, wie das funktionieren könnte.

Die Supply Chain Krise beschränkt sich momentan nicht auf ein einzelnes Problem, sondern umfasst einen ganzen Katalog an logistischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Betroffen sind sowohl Zulieferer als auch Transport- und Logistikunternehmen. KI gilt hier als die Lösung, um komplexe Transportketten zu managen. Foto: Panthermedia.net/Iurii

Die Supply Chain Krise beschränkt sich momentan nicht auf ein einzelnes Problem, sondern umfasst einen ganzen Katalog an logistischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Betroffen sind sowohl Zulieferer als auch Transport- und Logistikunternehmen. KI gilt hier als die Lösung, um komplexe Transportketten zu managen.

Foto: Panthermedia.net/Iurii

80% des internationalen Handelsvolumens werden laut UNCTAD auf dem Seeweg befördert. Und während der Hafenbetrieb sowie der Transport über Land deutlich stärker mit den Auswirkungen von COVID-19 zu kämpfen hatten, bereitet auch die Zuverlässigkeit der Seefrachttransporte Unternehmen die ein oder andere schlaflose Nacht. Daran haben nicht nur schlechte Wetterbedingungen im Jahrhundertsommer 2022 eine Mitschuld. Auch die Überlastung von Hafenterminals und der allgegenwärtige Fachkräftemangel führen zu Unterbrechungen und erhöhter Verweildauer der Container beim Entladen und Abtransport von Waren. Mit Blick auf die steigenden Energie- und Rohstoffpreise sowie den rezensionsbedingten Rückgang bei der Auslandsnachfrage, steigen zudem die wirtschaftlichen Risiken und Sorgen in der Hafenwirtschaft und Schifffahrt.

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Mit intelligenten Pufferzeiten, alternative Routen und Terminals sowie die Bereitstellung zusätzlicher landseitiger Transporte lassen sich singuläre Probleme zunächst gut bewältigen. Treffen jedoch gleich mehrere Faktoren aufeinander – wie es im letzten Jahr der Fall war – sind erhebliche Störungen innerhalb des komplexen Lieferkettennetzwerks unausweichlich.

Datenmeer kanalisieren und nutzen

Neue Technologien rund um Künstliche Intelligenz (KI), Machine Learning (ML) und Graphtechnologie versprechen hier in den kommenden Jahren einen radikalen Umbruch in der kommerziellen Schifffahrt. Bis zum autonom fahrenden „Smart Ship“ mag es noch eine Weile dauern, aber schon jetzt steckt großes Potenzial in der Optimierung von Routen durch smarte KI-Navigationssysteme. Die Analyse hochqualitativer Daten in großen Mengen ermöglicht es, Workflows über mehrere Transportketten hinweg aufeinander abzustimmen und zu optimieren – sowohl zu Wasser als auch auf dem Land. Der datenbasierte Ansatz verspricht dabei nicht nur mehr Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Effizienz, sondern kann im Hinblick auf die CO2-Emissionen auch helfen, wachsende regulatorische Anforderungen im Bereich Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu erfüllen.

Das Management bzw. die Nutzung von Daten ist jedoch alles andere als einfach. Die maritime Wirtschaft gehört zu den komplexesten Branchen der Welt. Neben einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt von Akteuren, müssen die Systeme auch externe Faktoren wie Wetterbedingungen, politische Konflikte und Marktschwankungen bei ihren Routenvorschlägen berücksichtigen. Im Frachtschiffverkehr liegt bereits eine enorme Menge an Daten vor: Daten von Chartergesellschaften und Reedereien, Reports von Hafenbehörden, Satellitendaten, Navigations- und Schiffsdaten des Automatic Identification Systems (AIS). Auch Sensordaten der an Bord installierten Ausrüstung sowie historische Daten früherer Fahrten und externe Informationen zu aktuellen wirtschaftlichen, regulatorischen oder metrologischen Rahmenbedingungen spielen eine Rolle.

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Bei dieser Flut an Daten, wo liegt also das Problem? Nun, zum einen befinden sich die für das Supply Chain Management relevanten Datensätze auf mehreren, miteinander verbundenen Ebenen und sind über unzählige, sich ständig verändernde Beziehungen miteinander verknüpft. Zum anderen sind viele dieser Datensätze unvollständig, von geringer Qualität und in schwer oder nur teilweise zugänglichen Datensilos gespeichert. Für fundierte Datenanalysen im Rahmen von KI und ML ist daher zunächst eine ganzheitliche und kontextuelle Sicht erforderlich.

Genau vor dieser Herausforderung stand auch der Logistikexperte OrbitMI. Der Softwareanbieter wollte eine „Vessel Performance“-Lösung, mit der Anwender in Echtzeit die beste Schifffahrtsroute berechnen, What-If-Szenarien durchspielen und die CO2-Emissionen reduzieren können. Auf der Suche nach einer geeigneten Datenbank-Infrastruktur definierte das Entwicklerteam fünf Auswahlkriterien:

  • Das System musste in der Lage sein, große Datenmengen zu verarbeiten
  • Die Datenspeicherung und -abfrage musste zuverlässig sein, in Echtzeit erfolgen und in großem Umfang funktionieren
  • Abfrage von raumbezogenen Geodaten zusätzlich zu linearen und tabellarischen
  • Eine Bibliothek von Pathfinding-Algorithmen
  • Ein Entwicklungspartner, der bereit ist zu experimentieren und zu innovieren

Graphtechnologie für Echtzeit-Routing

Herkömmliche relationale Datenbanksysteme stießen angesichts dieser Anforderungen in Sachen Performance, Skalierbarkeit und Flexibilität schnell an ihre Grenzen. OrbitMI entschied sich daher für den Einsatz von Graphtechnologie und die Graphdatenbank Neo4j. Graphdatenbanken kommen überall dort zum Einsatz, wo viele und heterogene Daten miteinander verknüpft und in Kontext zueinander gestellt werden. Die Beziehungen stehen im Mittelpunkt des Datenmodells. In einem Routing-System werden Objekte (z. B. Frachter, Hafen, Kanal) im Graphen als Knoten, die Verbindungswege als Kanten dargestellt. Das erlaubt es, Transport- und Verkehrswege über mehrere Endpunkte hinweg zu berechnen und zu analysieren. Neue Daten können über das Knoten-Kanten-Prinzip einfach hinzugefügt werden.

Die Performance hängt dabei nicht von der Gesamtmenge der Daten, sondern lediglich von den möglichen Verbindungswegen zwischen Start- und Ankunftshafen sowie den damit verbundenen, relevanten Informationen ab (z. B. lokale Wetterlage, Zollbeschränkungen). Damit sind Graphdatenbanken im Gegensatz zu relationalen Datenbanken in der Regel 100-mal schneller und liefern Antworten in Echtzeit.

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Pathfinding-Algorithmus für die smarteste Route

Im graphbasierten Navigationssystem von OrbitMI nimmt die prädiktive Analyse im Zusammenhang mit Graph Data Science (GDS) eine Schlüsselrolle ein. Dabei greift der Logistikexperte auf die in Neo4j hinterlegte GDS-Library mit skalierbaren Graph-Algorithmen zurück. Der Pathfinding-Algorithmus hilft, Frachtschiffe sicher und zuverlässig ans Ziel zu bringen. Dabei geht es nicht immer zwangsläufig darum, die schnellste Route zu identifizieren. Vielmehr können Anwender eine Punkt-zu-Punkt-Routenplanung vornehmen, in der Dritt-Parameter wie Entfernung, Wetter, Kanal- und Engpassbeschränkungen berücksichtigt und kontinuierlich aktualisiert werden.

Die präzise vorausschauende Planung und zeitnahe Frachterfassung ermöglicht datengetriebene Entscheidungen und einen souveränen Umgang mit Stakeholdern entlang der Transportketten. Zudem können Chartergesellschaften und Reedereien in Simulationen beispielsweise die Dauer und das Emissionsvolumen von Fahrten durch Sonderzonen (Emission Control Areas (ECAs)) prognostizieren, Kosten für das Umfahren von Hochrisikogebieten (z. B. Piraterie) veranschlagen und die Route nach externen Gesichtspunkten anpassen (z. B. Versicherungspolicen, Bunkerung).

Die Routenoptimierung via Graphtechnologie liefert dabei Ergebnisse innerhalb von weniger als einer Sekunde. Insgesamt steigerte OrbitMI die Effizienz seines Navigationssystems um 60 % und verdreifachte die zu verarbeitenden Workloads. Mit wachsender Zahl der Frachtschiffe, die im Graphen erfasst und beobachtet werden, soll sich zukünftig auch die Zahl der API-Aufrufe an das System erhöhen – ohne Performance-Verluste.

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Nachhaltigkeitsziele erreichen, Kosten sparen

Grundsätzlich sind dem System dank des hochskalierbaren Graph-Modells keine Grenzen gesetzt. Eine zunehmend wichtige Rolle nimmt hier zukünftig das Thema Nachhaltigkeit und die Reduzierung von CO2-Emissionen ein. Die kommerzielle Schifffahrt verursacht etwa eine Milliarde Tonnen CO2 jährlich und damit rund 2,5 % der weltweiten Treibhausgas-Emissionen. Im Vergleich: Deutschland nimmt im Ranking der größten CO2-Emittenten mit 753 Millionen Tonnen Platz sechs ein. Der Handlungsbedarf ist also enorm. Erst im Herbst letzten Jahres hat der Weltreederverband ICS bei der IMO (International Maritime Organization) auf Initiative der deutschen Reeder einen Vorschlag eingereicht, die Klimaneutralität der Branche bis 2050 anzustreben.

Neue Technologien rund um KI gelten hier als technische Grundvoraussetzung, um die ehrgeizigen Pläne zu realisieren. Einem Bericht von McKinsey & Co zufolge könnte die Hälfte der Dekarbonisierung des Seeverkehrs durch den Einsatz von Lösungen realisiert werden, die es den Reedereien ermöglichen, ihre Flotten effizienter zu steuern. Das System von OrbitMI beispielsweise liefert bereits Empfehlungen für Routen, auf denen der Verbrauch von Treibstoff und damit der CO2-Austoß möglichst gering ist. Solche und ähnliche Lösungen sind auch angesichts des von der EU geplanten Lieferkettengesetzes dringend erforderlich. Der Entwurf legt Unternehmen strenge Nachhaltigkeitspflichten auf, darunter die Einhaltung von Umweltschutzstandards. Und nicht zuletzt schaffen wohl auch die steigenden Energiepreise einen ausreichenden Anreiz, das Supply Chain Management mit Hilfe von KI, ML und Graphtechnologie effizienter, schneller und nachhaltiger zu gestalten.

Stefan Kolmar, VP Field Engineering EMEA and APAC Stefan Kolmar unterstützt bei Neo4j Kunden in ganz Europa beim Management und der Leitung von Großprojekten sowie bei der Erstellung von Architekturkonzepten mit Neo4j. Er ist seit über zwanzig Jahren im Bereich IT-Beratung unterwegs und blickt auf umfassende Expertise in Bezug auf Datenbanken zurück (Oracle, Tandem NonStop SQL, Informix, etc.). Vor Neo4j arbeitete er u. a. für Oracle, TimesTen und Portal Software GmbH. Foto: Autor