Spielbasierte Ansätze
Die Entwicklungen im Kontext der Industrie 4.0 werden die Prozesse, Organisation und Technik in Produktions- und Logistiksystemen stark verändern. Unternehmen können ihre Wettbewerbsfähigkeit nur sichern, wenn sie den Herausforderungen der Digitalisierung mit der konsequenten Begleitung der Veränderungsprozesse und der systematischen Befähigung der Mitarbeiter mit innovativen und aktivierenden Ansätzen der kompetenzorientierten Weiterbildung begegnen. Neue Ansätze und Technologien wie Gamification und virtuelle Realität bergen hierbei große Potenziale, insbesondere in der Kompetenzentwicklung einen innovativen Beitrag zu leisten. Der Beitrag stellt die Motivation und die Zielsetzung des Verbundprojekts „CreaLOGtiv – Kreativwirtschaftliche Entwicklung einer spielbasierten Lernumgebung für die Logistik 4.0“ und die ersten Ergebnisse vor.

Kategorisierung der Spiel-Design-Elemente.
Foto: Lehrstuhl für Unternehmenslogistik (LFO) an der Universität Dortmund.
Autonome Transportsysteme, intelligente Behälter oder Paletten sowie Roboter- und Automatisierungstechnik stellen „Zunkunftstechnologien“ dar, die die innenbetriebliche Prozesslandschaft in der Logistik und im produktionslogistischen Umfeld stark verändern werden. Einen beispielhaften Überblick der technologischen Lösungen im Kontext der Industrie 4.0 wird in Straub et al. 2017 gegeben.
Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung zwischen Mensch und Maschine in Arbeitssystemen der „Social Networked Industry“ wird durch die wachsende Flexibilisierung des arbeitsorganisatorischen Rahmens der Logistik unterstützt. Nach ten Hompel beschreibt „Social Networked Industry“ den Menschen als inhärenten Aspekt in der Industrie 4.0 und begreift diese als soziotechnisches System, in dem der Mensch ebenso mit anderen Menschen wie mit Maschinen zusammenarbeitet. Als Beispiele des arbeitsorganisatorischen Rahmens lassen sich flexible Arbeitszeitmodelle und Remote-Arbeit bzw. flexible Selbststeuerung aufführen. Diese technologischen und organisatorischen Veränderungen sind insbesondere im operativen Bereich der Logistik verstärkt zu spüren und werden den Arbeitsalltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transformieren. Vor diesem Hintergrund stehen Unternehmen aktuell vor der Herausforderung, die zukünftigen Kompetenzanforderungen zu antizipieren, um die entsprechenden betrieblichen Kompetenzentwicklungsprozesse proaktiv zu gestalten.
Die Veränderungen im Kontext der Industrie 4.0 und deren Einfluss auf die Arbeitswelt, Arbeitsorganisation, Arbeitsaufgaben und Kompetenzanforderungen sind zurzeit Bestandteil zahlreicher Publikationen wie bspw. Ahrens & Spöttl 2016 und Studien wie bspw. Spath 2013; Spöttl et al. 2016; Hirschkreisen & Ittermann 2015; Impuls 2015; BCG 2015.
Als Ergebnis der Literatur- Studienanalyse lassen sich die Auswirkungen der Digitalisierung und Autonomisierung der Logistikprozesse in der Industrie 4.0 auf die Kompetenzanforderungen wie folgt zusammenfassen:
- Routinetätigkeiten, wie z. B. die Erfassung, Dokumentation und Systemeinbuchungen von Güterbewegungen oder die Ermittlung von Frachtgewicht und -volumen, werden im Zuge der Automatisierungsmöglichkeiten abnehmen.
- Der zunehmende Einsatz digitaler Medien und Technologien wird den entsprechenden fachgerechten Umgang, z. B. mit mobilen Geräten oder Assistenzsystemen, erforderlich machen.
- Prozessverständnis und Problemlösungskompetenz werden zu wichtigen Schlüsselkompetenzen.
- Soziale und kommunikative Kompetenz werden zur Voraussetzung für „Social Manufacturing and Logistics“.
- Die bisherigen Aufgabenbereiche werden um wertschöpfende Tätigkeiten (z. B. Montagetätigkeiten oder Abwicklung von additiven Fertigungsprozessen) sowie Aufgaben des Störungsmanagements und Instandhaltung erweitert.
- Informationskompetenz wird zur Voraussetzung für optimierte Entscheidungsfindung mit Assistenzsystemen.
- Vertieftes technisches Verständnis wird das Anforderungsprofil an Berufsbildern wie z. B. „Fachkraft für Lagerlogistik“ erweitern.
- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden flexibler eingesetzt.
- Die Bereitschaft und Fähigkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, selbstständig zu lernen, wird an Bedeutung gewinnen.
- Innovative Arbeitsformen, dezentrale Verantwortung und Kollektivarbeit werden zunehmen.
Neue Herausforderungen für die Kompetenzentwicklung
Diese Veränderungen der Arbeitswelt in der operativen Logistik 4.0 sind auf der einen Seite notwendig, um eine effektive Systembeherrschung der Industrie 4.0 zu realisieren. Auf der anderen Seite ziehen diese deutlich veränderten Anforderungen an die Kompetenzen der Beschäftigten nach sich. Insbesondere das Verständnis von Prozesszusammenhängen sowie die Wechselwirkung von Prozess, Technik und Organisationen werden entscheidend für die kompetente Durchführung dieser neuen Aufgaben. Demnach werden vermehrt metakognitive Kompetenzen, wie Problemlöse- und Entscheidungsfähigkeit sowie effiziente Kommunikation und ganzheitliches Prozessverständnis gefordert. Die daraus resultierende Notwendigkeit, verstärkt prozedurales Wissen aufzubauen und Handlungskompetenz in komplexen Prozesszusammenhängen zu entwickeln, stellt die aktuellen Ansätze und Methoden zur Kompetenzentwicklung sowie die betriebliche Weiterbildungspraxis vor neue Herausforderungen. Im Gegensatz zu deklarativem Wissen, das sich auf Faktenwissen über z. B. Öffnungszeiten oder Gefahrensymbole bezieht, beschreibt prozedurales Wissen Handlungswissen und impliziert die Transferleistung in unterschiedliche Kontexte. Hierbei steht demnach das Wissen über die angemessene Durchführung einer Handlung und ihre praktische Durchführung im Vordergrund. Diese verstärkt metakognitiven Anforderungen an die Mitarbeiterkompetenzen verlangen nach innovativen Ansätzen der Kompetenzentwicklung, die in der Lage sind, die benötigten Kompetenzbereiche adäquat zu adressieren. Klassische Weiterbildungsangebote, wie z. B. Präsenzveranstaltung, aber auch E-Learning Angebote und Web-based-Trainings (WBTs) reichen hier in der Regel nicht mehr aus. Dies liegt zum einen an ihren natürlichen methodischen Grenzen, zum anderen aber auch daran, dass Lernen aktuell zumeist noch als linearer Prozess gedacht und als „harte Arbeit“ verstanden wird. Damit die Transformation zur Industrie 4.0 mit all ihren Potenzialen ganzheitlich gelingen kann, darf Personal- und Kompetenzentwicklung jedoch nicht mehr vorwiegend durch punktuelle Seminare stattfinden. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist ein Umdenken in der (betrieblichen) Weiterbildung erforderlich. Der Fokus muss hierbei deutlich stärker auf der Kompetenzorientierung liegen. In diesem Sinne ist das Erproben und die Anwendung des notwendigen prozeduralen Wissens nah am realen Arbeitsgegenstand zentral, um Handlungsroutine und Erfahrung, als die wesentlichen Bestandteile von Kompetenz, aufbauen zu können. Kompetenz wird hier verstanden als ein erlernbares Set von Fähigkeiten in komplexen, ungewissen Situationen und bei offenen Aufgabenstellungen in prozessorientierten Arbeitsorganisationen durch selbstorganisiertes Handeln Problemlösungen zu entwickeln sowie selbstorganisiert Neues hervorzubringen. Ziel muss also eine kompetenzorientierte Weiterbildung sein, welche es den Mitarbeitern ermöglicht, das Treffen von Entscheidungen und Lösen von Problemen nah am realen Arbeitsgegenstand und in komplexen logistischen Prozesszusammenhängen weitestgehend selbstorganisiert zu erproben.
Gerade die Mechanismen von Unterhaltungsspielen und virtueller Realität haben hier das Potenzial, Kompetenzentwicklung sowie die neuen Anforderungen der wissensintensiven Facharbeit und fortschreitende Technologieentwicklung in eine Wechselbeziehung zu bringen. In diesem Zusammenhang stehen vor allem „Gamification“, die Integration spielerischer Elemente in einen nicht-spielerischen Kontext und die Umsetzung von Serious Games, als in sich geschlossene und vollständige Spiele, für die betriebliche Kompetenzentwicklung im Fokus.
Spielbasierte Ansätze zur kompetenzorientierten Weiterbildung
Spielbasierte Ansätze in Lehr-Lernkontexten sind prinzipiell nicht neu, wie beispielsweise die Spieltheorie, Edutainment und Game-based-learning zeigen. Der zentrale Unterschied in Serious Games liegt in der engen Verzahnung von Spiel-und Lernprozess. Anders als bei den vorherigen Ansätzen wird der Lernprozess direkt mit der Spielmechanik gleichgesetzt. Hier liegt der Lernprozess im Spiel selbst und wird nicht einzig mit Spielsequenzen angereichert. Aus didaktischer Perspektive liegt das große Potenzial demnach in der Anziehungskraft, die (Computer-) Spiele im privaten Sektor auslösen. Durch die Integration geplanter Lernprozesse in die Spielsystematik wird ein didaktischer Mehrwert erwartet, durch den die berufliche Bildung von dieser Anziehungskraft profitiert. Zum einen zeigen sich durch Serious Games positive Effekte, wenn es darum geht sehr monotone Inhalte unterhaltsam, oder sehr komplexe Inhalte möglichst verständlich und anschaulich zu vermitteln. Zum anderen sind Serious Games aber besonders geeignet, wenn es darum geht, Kompetenzen zu entwickeln – da dies immer mit dem Aufbau von Handlungsroutinen und Erfahrungswissen einhergeht. Im Medium Spiel wird genau der geschützte Handlungsraum geschaffen, um nicht nur Wissen zu generieren, sondern dieses auch mit erlebbarer Konsequenz anzuwenden und Handlungskompetenz zu entwickeln. Durch die Wechselwirkung einzelner Spiel-Design-Elemente (Komponenten) werden unterschiedliche Spielmechaniken erzeugt, wie beispielsweise Feedback sowie das zyklische, in seiner Schwierigkeit ansteigende Einüben des Erlernten sowie die langsame Integration neuer Inhalte, die einen positiven Einfluss auf Lernprozesse aufweisen. Durch diese und ähnliche im Spielkontext typischen Mechaniken wird insbesondere das aktive, situierte und erfahrbare Lernen unterstützt. Insbesondere neue Technologien der virtuellen Realität ermöglichen hier das Eintauchen in die Spielsituation, um Handlungskonsequenzen zu erleben und zu erproben.
Durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Mechaniken im Spiel resultiert wiederum ein durch den Nutzer wahrgenommenes Gesamtbild (Dynamik). Hierdurch wird ein Nutzererlebnis erzeugt, wie beispielsweise das Gefühl von Fortschritt, Herausforderung oder Neugierde. Auch diesen Dynamiken wird ein positiver Einfluss auf Lernprozesse zugeschrieben, die sich durch Interaktion des Lernenden mit der Spielumgebung entfalten. Hierbei werden im speziellen die Aspekte des konstruktiven, sozialen, emotionalen und selbstgesteuerten Lernens angesprochen. Das bedeutet zum einen, dass ein Spannungsfeld zwischen Langeweile und Überforderung in jeder Spielsituation aufrechterhalten werden muss.

Bild 2 Das Flow-Erlebnis nach Csikszentmihalyi. Bilder: Verfasser
Quelle: Verfasser
Zum anderen impliziert dies die Anforderung, eine Spielumgebung zu gestalten, die mit Zuwachs der Kompetenzen immer wieder neue Herausforderungen und Freiraum für unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten bietet.
Nur in diesem ausgewogenen Spannungsfeld entwickelt sich ein „Flow-Erlebnis“, das vollständige Aufgehen in der eigenen Handlung. Genau das ist der Effekt der Anziehungskraft von Unterhaltungsspielen, der in Serious Games zum Zweck des Lernens erzielt und genutzt werden soll. Um dieses Ziel zu erreichen kommt dem Spielentwicklungsprozess eine elementare Bedeutung zu. Ein „gutes“ Spiel zu entwickeln gilt hier allgemein als notwendige Bedingung, um die Potenziale von Serious Games zu nutzen. Dies erfordert für die Entwicklung eine umfassende Kenntnis über Lernvoraussetzungen, Bedürfnisse und Erfahrungen der letztendlichen Nutzgruppe des Games. Eine umfassende Anforderungsanalyse der Zielgruppe ist vor diesem Gesichtspunkt unabdingbar. Für die kompetenzorientierte Weiterbildung im Kontext der Digitalisierung der logistischen Arbeitswelt ist es zudem zentral, diejenigen Anwendungsfälle zu identifizieren, die sich bestmöglich zur Integration in eine Spielsystematik eignen und gleichzeitig die notwendigen Kompetenzanforderungen adressieren. Hier bieten insbesondere auch dreidimensionale Umgebungen die Möglichkeit, digitale Welten nah am realen Systemen zu entwickeln und lernen, ohne die Gefahr realer Konsequenzen zu ermöglichen. Von großer Bedeutung ist es in diesem Zusammenhang, den Schulterschuss zwischen einer möglichst realen Simulationsumgebung und Spiel-Design Elementen sowie einem spieletypischen Abstraktionsgrad von Metaphern und Abwechslung zu schaffen.
So ist es für die Spielentwicklung entscheidend, die unterschiedlichen interdisziplinären Anspruchsgruppen, wie Game-Designer und Entwickler, Didaktiker, Personalentwickler, Unternehmensverantwortliche sowie insbesondere die späteren Nutzer des Spiels frühzeitig in den Design-Prozess einzubeziehen.
Beitrag zur Lösung
Der Ansatz des Verbundvorhabens „CreaLOGtiv – Kreativwirtschaftliche Entwicklung einer spielbasierten Lernumgebung für die Logistik 4.0“ greift die genannten Potenziale von Serious Games auf. Ziel ist es, durch die Verwendung neuester Technologie eine spielbasierte Lernumgebung zu entwickeln, die die Kompetenz zur kollaborativen Prozessgestaltung und -optimierung der MitarbeiterInnen in der Logistik 4.0 im Vergleich zu einer klassischen Schulung oder eines Computer Based Trainings (CBT) im realistischen logistischen Umfeld sowie durch selbsttätiges Handeln im geschützten Raum ermöglicht. Durch Komposition unterschiedlicher innovativer Ein- und Ausgabegeräte sowie dem Einsatz von VR-Technologien entstehen innovative technologische Umsetzungskonzepte für das kompetenzorientierte Lernen. Die beschriebenen allgemeinen Rahmenbedingungen hinsichtlich des Spielentwicklungsprozesses werden im Forschungsprojekt in Form einer multiperspektivischen empirischen Anforderungsanalyse berücksichtigt und im weiteren Projektverlauf, für die operative Logistik im speziellen, weiter ausdifferenziert.
Die zu entwickelnden Modelle und Konzepte zum Einsatz von VR-Technologien sowie Gamedesigns und Playful Interaction Konzepten tragen dazu bei, eine realistische sowie interaktive spielbasierte Lernumgebung zu schaffen, welche durch dynamische Zustandsveränderungen in Abhängigkeit zu den Handlungen des Lernenden, das Lernen in der spielbasierten Lernumgebung spürbar erfahrbar zu gestalten. Das innovative Merkmal der spielbasierten Lernumgebung liegt neben dem Einsatz neuester Technologien darin, kollaboratives Lernen direkt am Lerngegenstand wahrzunehmen und somit den Zugang zum Lernen, auch bei einer stark heterogenen Zielgruppe, maximal niederschwellig zu halten.
Dipl.-Päd. Sandra Kaczmarek
Dipl.-Logist. Natalia Straub
Univ. Prof. Dr. Michael Henke vom Lehrstuhl für Unternehmenslogistik (LFO) an der Universität Dortmund.