In zehn Jahren werden wir den Großteil der manuellen Piece-Picking Arbeitsplätze durch Roboter ersetzt haben 01.06.2019, 00:00 Uhr

Roboter greifen zunehmend auch nach Kleinteilen

Automatisierungstechnologien – und damit einhergehend der Einsatz von Robotik – schreiten in der Logistik mit schnellen Schritten voran. Wohin die Reise geht, welche Fragen noch beantwortet werden müssen und welche Rolle der Mensch in Zukunft spielen wird, darüber sprachen wir mit Elmar Issing, Vice President Corporate Future Markets & Innovations bei SSI Schäfer. Das Gespräch führte Rolf Müller-Wondorf.

Gemeinsam mit dem Roboterspezialisten fpt zeigte SSI Schäfer auf der LogiMAT 2019 eine standardisierte Piece Picking-Applikation, die branchenübergreifend bei typischen Kommissionieraufgaben eingesetzt werden kann.

Gemeinsam mit dem Roboterspezialisten fpt zeigte SSI Schäfer auf der LogiMAT 2019 eine standardisierte Piece Picking-Applikation, die branchenübergreifend bei typischen Kommissionieraufgaben eingesetzt werden kann.

Foto: SSI Schäfer

LfU: Herr Issing – wer die Intralogistik aufmerksam beobachtet erkennt recht schnell, dass die Robotik mit riesigen Schritten auf dem Vormarsch ist. Wie gut ist SSI Schäfer auf diesen Trend vorbereitet?

Issing: Tatsächlich haben wir in diesem Segment einiges zu bieten. Oder – besser gesagt – mit dem Thema Robotik beschäftigen wir uns schon sehr lange sehr intensiv. Bereits vor mehr als zehn Jahren präsentierten wir unser Schäfer Case Picking System, kurz SCP, mit dem sich die Kommissionierung von Kollis komplett automatisieren lässt. Dieses System entwickelten wir gemeinsam mit unserem Partner FPT Robotik. Des Weiteren übernahmen wir vor drei Jahren auch die Mehrheitsanteile am Portalroboterhersteller RO-BER. Dadurch verfügen wir heute über eine umfassende Robotik-Kompetenz – vor allen Dingen über die gesamte Brandbreite von Knickarm-Robotern bis hin zu Flächenportalen. Entsprechend gut sind wir daher beim Thema Case-Picking aufgestellt. Während der vergangenen LogiMAT haben wir zudem auch Lösungen im Anwendungsbereich Piece-Picking vorgestellt.

LfU: Und damit eigentlich schon ein wenig später als einige Ihrer Marktbegleiter. Wie kam es zu dieser Verzögerung?

Issing: Mit Piece Picking haben wir uns tatsächlich schon vor zehn Jahren beschäftigt, wobei allerdings die Wirtschaftlichkeit gegenüber ergonomischen und hocheffizienten Arbeitsplätzen nur bedingt vorhanden war. Getrieben jedoch durch den 24/7-E-Commerce-Handel als auch durch die abnehmende Ressourcenverfügbarkeit, wurden signifikante Entwicklungsschritte im Bereich der Klein-Roboter sowie in der Sensorik erreicht. Wir dürfen dabei dennoch nicht übersehen, dass gravierende Unterschiede zwischen den Themen Case-Picking und Piece-Picking existieren.

LfU: Können Sie diese Unterschiede bitte näher beschreiben?

Issing: Gerne. Fangen wir zunächst beim Case-Picking an. Hierbei müssen wir Handelseinheiten filialgerecht auf Ladungsträger zusammenfassen, also palettieren, oder aber im umgekehrten Fall sortenreine Wareneingangspaletten auflösen, sprich depalettieren. Im Anschluss an die Depalettierung werden die Handelseinheiten mittels Teach-In-Verfahren erfasst und klassifiziert. Dies bedeutet nicht nur Zählen, Wiegen und Messen sondern vielmehr die Feststellung der Artikeleigenschaften und Verpackungsart, da ab diesem Zeitpunkt der gesamte Intralogistikprozess vollautomatisch abläuft. Bei der filialgerechten Palettenbildung müssen wir einige Restriktionen beachten. Man möchte einerseits filialgerecht die Handelseinheiten nach der Gangfolge sortiert bzw. sequenziert haben, auf der anderen Seite sind transportsichere und möglichst stabile Paletten gefordert, wobei wiederum der Volumennutzungsgrad maximiert werden soll. Dies sind eigentlich drei völlig konträre Ziele, für deren Umsetzung wir eigens unseren Schäfer Pack Pattern Generator (SPPG) entwickelt haben. Damit können wir den Anforderungen an die Palettenbildung hinsichtlich Stabilität, Volumennutzungsgrad und filialgerechter Sequenzierung gerecht werden. Diesen Prozess beherrschen wir seit vielen Jahren und haben damit bereits zahlreiche Anlagen weltweit erfolgreich realisiert.

LfU: Und wie sieht es mit dem Piece-Picking-Prozess aus?

Issing: Das Piece-Picking ist eine komplett andere Herausforderung. Hierbei werden keine wenigen zehntausende von Handels- oder Transporteinheiten, sondern viele hunderttausende von sich ständig verändernden Einzelartikeln gehandhabt. Dieses außerdem sehr volatile Gut- spektrum ändert sich nicht zuletzt auch permanent in seiner Beschaffenheit und in seinen physikalischen Eigenschaften. Weitere Herausforderungen sind außerdem die erforderlichen sehr hohen Pickraten, der Zugriff auf ein ungeordnetes „Schüttgut“ sowie die Erfassung und das Greifen gemischter Artikel aus einem Behälter. Unter diesen Umständen ist ein Teach-In-Prozess unpraktikabel und an das Identifikationssystem werden höchste Anforderungen gestellt. Eine besondere Herausforderung für das Vision-System ist dabei nicht nur die Identifikation eines Artikels, sondern auch dessen Lage, Position und Orientierung, woraus wiederum die Positionsbestimmung und damit die Koordinate samt Anfahrkurve des Roboters bestimmt werden muss. Zusätzlich erfordern die hohen Taktraten von mehr als 800 Zyklen pro Stunde sehr schnelle Quellbehälterwechsel in der Bereitstellung, wobei diese schnellen Prozesszyklen wiederum die Identifikationszeit reduzieren.

LfU: Gerade das Greifen der Teile galt bislang auch als besondere Herausforderung. Inwieweit beherrschen Sie heute den Greifprozess?

Issing: Es ist richtig, dass der Griff in die Kiste besonders problembehaftet ist. Bereits seit den 1990er-Jahren wurde immer wieder versucht, das Picken aus Schüttgutbehältern mit einem der menschlichen Hand nachgebildeten Greifer auszuführen. Die schier unbegrenzten Fähigkeiten der menschlichen Hand als Werkzeug sind jedoch nach wie vor unübertroffen, wobei sich hierbei einfache, schnelle und prozesssichere Sauggreifer, zumindest bei intralogistischen Aufgabenstellungen, etabliert haben.

Auch die Fähigkeit des menschlichen Auges, hinsichtlich einer dreidimensionalen, schnellen und äußerst sicheren Erfassung und Identifikation einzelner Artikel ist unerreicht. Heutige Bildverarbeitungssysteme arbeiten mit unterschiedlichen und hochkomplexen Verfahren zur Identifikation und Bestimmung der Lage, Orientierung und Position einzelner Artikel. Dennoch stellt die Koordinatenbestimmung nach wie vor die Vision-Systeme vor große Herausforderungen.

LfU: Wagen wir doch einen Zeitsprung: Wo sehen Sie die Robotik in der Intralogistik in zehn Jahren? Was wird sich noch ändern, wo gibt es Optimierungen?

Issing: Zunächst einmal finde ich es sehr angebracht, dass Sie in größeren Zeitabständen denken und Ihre Frage dementsprechend formuliert haben. In zehn Jahren aber, da bin ich mir ganz sicher, wird sich in diesem Geschäftsfeld sehr viel tun. Ich würde sogar behaupten, dass wir in diesem Zeitrahmen den Großteil der heute manuellen Piece-Picking-Arbeitsplätze durch Roboter ersetzen können. Das Thema ist aber nicht, dass wir die Automatisierung für uns selbst betreiben und diese nur aus wirtschaftlichen Gründen beim Kunden installiert wird, sondern das eigentliche Stichwort heißt Arbeitskräftemangel. Sie kriegen einfach nicht mehr das notwendige Personal. Und dieser Mangel ist aus meiner Sicht einer der wesentlichen Treiber der Automatisierung. Vor diesem Hintergrund wird sich die Prozessautomatisierung nicht nur auf das Piece-Picking beschränken. Gleichzeitig nimmt auch die mobile Robotik weiter zu. Schließlich ist unter dem Begriff Robotik alles versteckt, was sich in gewisser Art und Weise autonom bewegen kann.

LfU: Und dann ist auch der Schritt zur kollaborativen Zusammenarbeit von Mensch und Roboter nicht mehr weit. Wie bewerten Sie diese Zusammenarbeit?

Issing: Mensch und Maschine arbeiten heute schon sehr gut zusammen. Und in der Montage- oder bei Produktionsprozessen ist eine gemeinsam genutzte Zelle als Arbeitsplatz durchaus gegeben. Im Bereich der Intralogistik müssen Piece Picking-Roboter hochdynamisch 800 bis 1 000 Zyklen pro Stunde erreichen. Dies bedingt wiederum sehr schnelle Bewegungsabläufe, die, bei einer direkt kollaborativen Zusammenarbeit innerhalb einer gemeinsamen Zelle, eine Reduktion der Bewegungsgeschwindigkeit der Roboter auf ein sicherheitsverträgliches Niveau bedeuten würde.

LfU: Das würde aber unter dem Strich bedeuten, dass die Kombination Mensch und Maschine in der Intralogistik sehr unwahrscheinlich sein wird – oder?

Issing: Nein, nur in dieser stationären Kombination trifft dies zu. Sind Mensch und Roboter in einem Sicherheitsraum, dann wird der Roboter dadurch einfach nur langsam. Das sollte man bei allen Planungen bedenken. Und Roboter mit hohen Dynamiken brauchen auch ihre Anhaltekurven – dies ist eigentlich der beschränkende Faktor.

LfU: Gilt das auch wenn die Kommissionierung flurgebunden ist und damit Platzprobleme auftauchen?

Issing: Ja, auch hier haben sicherheitsrelevante Aspekte ihre Auswirkungen.

Entweder man setzt mobile Roboter ohne Sicherheitstechnik ein, dann muss man den Bereich für Menschen sperren. Sind dagegen die mobilen Roboter mit personensicherer Sensortechnik ausgestattet, können sich Mensch und Maschine frei im Raum bewegen. Tritt allerdings der Mensch oder ein manuell bedienter Stapler in den Sicherheitsraum des fahrenden Roboters ein, muss dieser aus Sicherheitsgründen zwangsläufig stoppen.

LfU: Welche Rolle spielt denn die Software in diesem Bereich? Hat SSI Schäfer in den vergangenen Jahren die Kompetenz in diesem Segment noch weiter ausgebaut?

Issing: Ja. Den Packalgorithmus Schäfer Pack Pattern Generator für den Case-Picking-Bereich habe ich ja schon erwähnt. Gemeinsam mit dem Vision-System ist er das A und O in solchen vollautomatischen Anlagen.

LfU: Und das wurde jetzt in Wamas integriert?

Issing: Wamas, wie der Name schon sagt, ist ein übergeordnetes Warehouse Management-System, das natürlich alle Komponenten innerhalb eines Warehouses koordiniert. Der Piece-Picking-Roboter, beziehungsweise die Zelle selbst, hat beispielsweise eine eigene interne Steuerung, die wiederum in die Wamas-Umgebung eingebunden ist.

Wamas koordiniert übergeordnet sämtliche Prozesse und Abläufe, welche die einzelnen Systemkomponenten ausführen. Wamas gibt zum Beispiel den zu pickenden Artikel mit Menge und Ziel/Auftrag vor. Das integrierte Vision-System ermittelt die Lage, Position und Orientierung der Artikel und der Greifalgorithmus bestimmt letztlich erst die Ausführung durch den Roboter. Für den Fall, dass es sich um einen noch unbekannten, nicht greifbaren Artikel handelt, muss nun durch Wamas ein manueller Pickvorgang angestoßen und ausgeführt werden. Diese Entscheidung muss in einem Bruchteil von Sekunden erfolgen.

LfU: Herr Issing, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

Elmar Issing

Elmar Issing.

Foto: SSI Schäfer

 

 

Rolf Müller-Wondorf