Fahrerlose Transportsysteme richtig einsetzen 01.09.2016, 00:00 Uhr

FTS-Ballett im Materialfluss

Wer Talent und Leidenschaft für perfekt synchronisierte Choreografien hat, muss nicht zwangsläufig eine Bewerbung bei „Let’s Dance“ anstreben – heute ist das auch eine hilfreiche Zusatzqualifikation im Management großer Warenlager im Handel oder der Industrie. Denn dort befördern fahrerlose Transportsysteme (FTS) von der Bücherkiste, dem kompletten Warenregal bis hin zur tonnenschweren Stahlrolle alle möglichen Gegenstände von A nach B. Anders als ihre menschlichen Kollegen bewegen sich die Transportroboter allerdings in genauer zeitlicher Synchronisation und ohne jegliche Ermüdungserscheinung in 24/7-Arbeitsschichten.

Fahrerlose Transportsysteme übernehmen in der Industrie zahllose Transportaufgaben. Doch nur dann, wenn sie richtig eingesetzt werden, spielen FTS ihre Stärken voll aus. Bild: SSI Schäfer

Fahrerlose Transportsysteme übernehmen in der Industrie zahllose Transportaufgaben. Doch nur dann, wenn sie richtig eingesetzt werden, spielen FTS ihre Stärken voll aus. Bild: SSI Schäfer

Doch das Höchstmaß an Perfektion ist noch nicht erreicht. Technologische Fortschritte in der Sensorik, der Steuerungssoftware und im Konstruktionsdesign sorgen dafür, dass FTS nicht nur günstiger werden, sondern sich auch in immer mehr Gebieten einfach einsetzen lassen. Die Hersteller verbessern zudem die vorhandenen FTS-Funktionalitäten kontinuierlich, so dass auch in den kommenden Jahren mit noch effizienten und effektiven Systemen für Lager- und Transportaufgaben zu rechnen ist.

Entwicklungsschub im FTS-Markt

Das Grundprinzip der elektronischen Helfer–Signale durch optische Sensoren erfassen und danach beschleunigen, lenken oder bremsen – hat sich seit 60 Jahren nicht verändert. In der jüngeren Vergangenheit wurden vor allem kleine Standardgeräte wie die „Ameise“, ein Elektro-Hochhubwagen von Jungheinrich, zu beliebten Helfern im Lager oder der Produktion. Auf deren Konstruktionsprinzip entwickeln FTS-Hersteller autonom bzw. automatisch fahrende Stapler oder Schlepper. Im Lean Kontext kommen im Bereich der Mate- rialversorgung FTS-Schlepper den Anforderungen von immer kleineren Belieferungszyklen entgegen. Da sie keine Mechanik für Handling-Aufgaben benötigen, können sie klein und kostengünstig konzipiert werden.

Aber erst seit zwei Jahren verändert sich der FTS-Markt mit zunehmender Dynamik: so machte Amazon 2012 durch den Kauf von Kiva Systems, einem Hersteller von Lagerhaus-Robotern, Einsatz und Effizienz von FTS mittels großer medialer Resonanz zu einem branchenübergreifenden Thema. Dies wird voraussichtlich kein Einzelbeispiel bleiben, denn in immer kürzeren Zyklen entstehen marktreife, hochprofessionelle Sensoren und Steuerungssysteme, die den Aktionsradius und Einsatzmöglichkeiten der FTS stetig erweitern.

Eignungstest für Roboterkollegen

Worauf kommt es aber an, wenn eine Neuanschaffung, Modernisierung oder ein Ausbau der vorhandenen FTS anstehen?

Der Eignungstest für Roboterkollegen. Bild: ROI

Der Eignungstest für Roboterkollegen. Bild: ROI

Unabhängig vom Einsatzort- und Ziel sind fünf Aspekte generell zu prüfen: Sicherheit: Mit welchen Systemen zum Ausschalten, Bremsen oder zur Personenerkennung verhindert das FTS Unfälle?

Orientierung: Wie folgt das Gerät definierten Routen, z.B. via Bodensignalen oder flexibel montierbaren Reflektoren? Stoppt es bei Abweichungen nicht nur, sondern nimmt auch selbstständig die Route wieder auf?

Steuerung: Meist steuert und kontrolliert man über eine Zentraleinheit mehrere FTS. Daneben gibt es Systemvarianten, bei denen die einzelnen FTS auch untereinander „kommunizieren“.

Energieversorgung: Je nach Einsatzgebieten entscheidet man sich für die Batterieversorgung, induktive Stromversorgung oder die Dieselmotorvariante.

FTF (Fahrerloses Transportfahrzeug): Leistungsanforderungen an das Fahrzeug, z.B. hinsichtlich der Lastaufnahmemittel, der Antriebstechnik und der Lenkung.

Rein technologisch gesehen lässt sich mit diesen fünf Kriterien genau ermitteln, welches FTS zum eigenen Bedarf passt. Speziell bei der Neueinführung eines Systems sollte man allerdings den klassischen Fehler vermeiden, dies als Lösung möglichst vieler Probleme zu verstehen. Stattdessen ist folgendes Vorgehen empfehlenswert:

Klares Einsatzkonzept erstellen: Die Geschäftsführung analysiert gemeinsam mit allen Verantwortlichen – also auch mit dem ausgewählten FTS-Hersteller – die konkreten Einsatzzwecke und Nutzenpotenziale. Hilfreich ist eine Transportmatrix mit der Anzahl der Transportvorgänge. In Kombination mit einer CAD-Zeichnung lässt sich der Transportaufwand überschlägig oder über Simulationen bewerten und daraus die Anzahl benötigter Fahrzeuge ableiten.

Segmentieren und Adaptieren: Per Schritt-für-Schritt Vorgehen sollte man ein FTS für eine klar definierte Aufgabe auswählen und implementieren. Erst wenn dies sauber und effizient funktioniert, lohnt der Blick auf andere Aufgaben oder eine Erweiterung zu bestehenden oder neuen Systemen. Dabei sind auch die Entwicklungen der nächsten fünf oder zehn Jahre zu berücksichtigen.

Sicher und lernfähig: FTS der nächsten Generation

Die FTS der nächsten Generation werden noch sicherer und einfacher bedienbar sein. Die wichtigsten Innovationen soll die Sensorik liefern: zwar existieren bereits unterschiedlichste Sensorvarianten, aber eine Steuerung auf Basis einer 3D-Sensorik bietet bislang kein FTS. Das ermöglicht den Fahrzeugen, Hindernisse wie eine Personengruppe oder falsch abgestellte Paletten zu identifizieren und umfahren, anstatt einfach zu stoppen. Auch aus ihrem 2D-Blickwinkel haben FTS nur wenige „blinde Flecken“ beim Erfassen von Personen, aber selbst die reduzieren sich dank der neusten Sensoren (z.B. durch Einsatz von Photo-Misch-Detektoren), was bald Mechanismen wie den automatischen Anfahrschutz überflüssig machen könnte. Und mittels einer Bilderkennung sollen FTS zukünftig „abstrakte“ Hindernisse wie „Eimer“ oder „menschlicher Fuß“ unterscheiden.

Die Navigation verändert sich ebenfalls. Anstelle einer Kabel- oder Markierungsgebundenen Führung setzen schon heute 70 % aller Anwendungen flexible Orientierungspunkte wie Reflektoren oder Spiegel ein, anhand derer sich das FTS über einen Laserscanner zurechtfindet. Das entspricht dem Trend, Produktion und Lager nach der Dynamik des Marktes in wesentlich kürzeren Zyklen umzugestalten. Laserscanner schaffen die Flexibilität, das FTS sehr schnell auf neue Routen zu programmieren, ohne dass bauliche Veränderungen notwendig sind. Dazu verfügen die Fahrzeuge bereits heute über „Teach in“-Funktionen, die zukünftig mittels Bildsensorik noch präziser sind: das FTS „merkt“ sich einfach bestimmte Orientierungspunkte wie eine Arbeitsstation oder eine Tür.

Weitere Innovationen gibt es in der Aktorik. So wird an einem neuen Fahrwerkskonzept nach dem Prinzip des Voith Schneider Propeller geforscht. Der Fahrantrieb besteht hierbei aus einem rotierenden Radträger an dem mehrere Räder kreisförmig angeordnet sind. Je nach Stellung der einzeln angetriebenen Räder kann ein Vortrieb in jede beliebige Richtung erzeugt werden. Es handelt sich somit um ein omnidirektionales Fahrwerkskonzept. Weitere Vorteile liegen in der stufenlosen mechanischen Regelbarkeit sowie in der Vereinigung von Vortrieb und Lenkung in einer Baugruppe.

In Summe können wir also schon bald mit FTS rechnen, die mit mehr Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit zu noch faszinierenderen „Tanzeinlagen“ im Betrieb bereit sind.

Von Heiko Marquardt

Heiko Marquardt, ROI Management Consulting AG