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Szenario für Klimaneutralität im Stromsektor 29.07.2021, 08:00 Uhr

Wie Flexibilität 100 Prozent erneuerbare Energien in Deutschland ermöglicht

Die Abwendung der Klimakatastrophe muss für die Weltgemeinschaft oberste Priorität haben. Eines der besten und effektivsten Mittel dafür ist die Dekarbonisierung der globalen Energiesysteme. Wärtsilä hat den Energiebedarf von 145 Länder im „Atlas of 100 % Renewable Energy“ modellhaft simuliert – darunter auch Deutschland. Laut dem Unternehmen liefern die Ergebnisse einen präzisen Fahrplan für die Politik.

Erneuerbare Energien, Speicher und flexible Wasserstoffmotoren ermöglichen geschlossene Kreislaufsysteme mit 100 % erneuerbarer Energie. Grafik: Wärtsilä

Erneuerbare Energien, Speicher und flexible Wasserstoffmotoren ermöglichen geschlossene Kreislaufsysteme mit 100 % erneuerbarer Energie. Grafik: Wärtsilä

Im November findet die 26. Conference of the Parties (COP), besser bekannt als Klimakonferenz der Vereinten Nationen, in Glasgow, Schottland, statt. Es ist bereits die fünfte nach der berühmten Pariser Konferenz 2015, auf der die globalen Ziele zur Bekämpfung der Klimakrise definiert wurden. Viele Menschen fordern die Verschärfung der globalen Klimastrategien, um die Zukunft des Planeten und das Wohlergehen künftiger Generationen zu sichern.

Eine der wichtigsten Triebfedern im Kampf gegen den Klimawandel ist die Dekarbonisierung des Energiesektors sämtlicher Wirtschaftsnationen. Viele Staaten arbeiten bereits auf dieses Ziel hin und haben ihre Investitionen in erneuerbare Energien erhöht: Es zeichnet sich ab, dass grüne Energie bis 2025 zur größten Energiequelle der Welt wird. Das reicht aber noch nicht. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen achtmal schneller ansteigen müsste als bislang, um die Ziele der Pariser Klimakonferenz bis 2050 zu erreichen. Nicht umsonst kam auch das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass die deutsche Politik zur Einhaltung der kritischen 1,5-Grad-Marke nachbessern und schärfere Gesetze erlassen muss.

Abwendung des Klimanotstands im Mittelpunkt

Wie können wir also die erneuerbare Energienutzung ausbauen, ohne die bestehenden Stromnetze zu überlasten? Beim Unternehmen Wärtsilä steht die Abwendung des Klimanotstands im Mittelpunkt aller geschäftlichen Aktivitäten. Deshalb hat sich das Unternehmen dem Thema im Atlas of 100 % Renewable Energy gewidmet: Darin hat man den Aufbau von 145 Energiesystemen weltweit modelliert und untersucht, wie diese bis 2030 zu 100 % auf erneuerbaren Ressourcen basieren könnten – darunter auch die G20-Staaten. Ein zentrales Ergebnis ist, dass Flexibilität der wichtigste Enabler der erneuerbaren Energiewende sein muss, und zwar in Form von zukunftsfähigen Gasmotoren, Energiespeichern und Optimierungstechnologien. Der Blick auf diese wichtigen Industrienationen hilft Skeptikerinnen und Skeptikern zu verstehen, dass eine 100-prozentige erneuerbare Zukunft kein „grünes“ Märchen, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist.

Fahrplan für politische Entscheidung

Der Atlas bietet einen wichtigen Fahrplan für politische Entscheidungsträger und beleuchtet die Technologien, die den Übergang zu einem vollständig erneuerbaren Energiesystem ermöglichen. Er modelliert Energiemärkte mit einem hypothetischen Neuanfang, um das ideale Szenario für erneuerbare Energien zu veranschaulichen. Zum einen stellt die Simulation die Option dar, alle erneuerbaren Technologien im Kapazitätsmix zuzulassen: einschließlich Solar- und Windenergie, Batteriespeichern sowie flexiblen Gaskraftwerken, die mit synthetischen erneuerbaren Treibstoffen betrieben werden – mittels Power-to-X (PtX)-Technologien aus erneuerbarem Strom erzeugt. Das alternative Szenario setzt nur auf Wind- und Solarstrom sowie Batterie-Energiespeicher.

Speicher plus Regelkraftwerke sparen fast 40 Prozent bei Kosten ein

Um die Herausforderung zu verdeutlichen, hat Wärtsilä den Energiebedarf aller G20-Länder errechnet. Das Ergebnis: Bis 2030 wären 12 364 GW installierte Leistung erforderlich, um ein Netz mit 100 % erneuerbaren Energien zu ermöglichen. Das sind elfmal so viel wie die derzeitige Gesamtstromerzeugung der USA. Dieser Bedarf würde in der Simulation vor allem durch Wind- und Solarenergie erzeugt. Damit die erneuerbaren Energien zur Hauptenergiequelle der G20-Staaten werden können, müsste dieser Mix durch insgesamt 3 408 GW flexible Energiekapazität aus Energiespeichern und Regelkraftwerken unterstützt werden. Diese Flexibilität würde nicht nur den notwendigen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien unterstützen, sondern auch den kosteneffizientesten Weg zur Dekarbonisierung: Die Hinzunahme von Regelkraftwerken zusammen mit Energiespeichern spart fast 40 % der Kosten ein, die für eine Umstellung allein mit Speichern im alternativen Szenario anfallen würden.

Hoher Flexibilitätsbedarf in Deutschland

Deutschland ist Teil der beschriebenen G20-Analyse, aber was bedeutet das für die Bundesrepublik konkret? Das deutsche Energienetz verfügt bereits über einen hohen Anteil an erneuerbarer Energie. Daraus ergibt sich ein großer Bedarf für flexible Energielösungen – nach den Berechnungen sogar der fünftgrößte aller G20-Länder. Der Grund dafür ist simpel: Wind weht natürlich nicht immer und ist daher auch nicht jederzeit in der Menge verfügbar, die nötig wäre, um den Energiebedarf zu decken – so wie im Falle der meisten erneuerbaren Energiequellen.

Den Berechnungen zufolge sind für Deutschland 466,1 GW installierte Leistung erforderlich, um ein Netz mit 100 % erneuerbaren Energien zu ermöglichen. Laut Atlas setzt sich der ideale Mix, um diesen Bedarf auf möglichst kosteneffiziente Weise zu decken, wie folgt zusammen: 181,4 GW Solarenergie, 185,0 GW Windkraft, 52,6 GW flexibles Gas und 5,4 GW Wasserkraft – all dies unterstützt durch Batteriespeicher, die die restlichen 41,7 GW abdecken, um ein Netz mit 100 % erneuerbaren Energien zu ermöglichen. Um diese Zahlen greifbarer zu machen, macht es Sinn, einen Blick auf ein hypothetisches Szenario für eine größere deutsche Stadt mit repräsentativem Energiebedarf zu werfen.

Erneuerbare-Energien-Szenario einer Modellstadt

An einem sonnigen Tag mit mäßigem Wind kann erneuerbare Energie die Modellstadt mit Strom versorgen, die Energiespeicher aufladen und klimaneutrale, synthetische Brennstoffe erzeugen. In der folgenden Nacht haben die voll aufgeladenen Batterien genug Kapazität, um die Stadt mit Strom zu versorgen. Sind die Batterien anschließend entladen und auch Solar- und Windenergie sind aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen ebenso wenig verfügbar, werden die flexiblen Gaskraftwerke hochgefahren, die mit CO2-neutralem, synthetischem Brennstoff betrieben werden. In der Nacht nimmt der Wind wieder zu und die flexible Gaserzeugung kann heruntergefahren werden – sie läuft aber weiter, um das System stabil zu halten. Jedes Zahnrad des Systems greift ineinander. Dieses Szenario zeigt, dass flexible Lösungen wie Gasmotoren, die die PtX-Technologie nutzen, entscheidend sind, um Solar- und Windenergie in einem Land wie Deutschland zu unterstützen und eine 100-prozentige erneuerbare Zukunft zu ermöglichen.

Der 34SG Balancer von Wärtsilä. Grafik: Wärtsilä

In zwei Minuten auf 10,8 Megawatt Leistung

Genau deshalb hat Wärtsilä flexible, schnellstartende Gasturbinen-Kraftwerkslösungen entwickelt, wie zum Beispiel den Wärtsilä 34SG Balancer. Dieser Gasmotor kann innerhalb von 2 Min. auf 10,8 MW Leistung hochgefahren werden. So integriert er sich nahtlos in ein System mit wechselnd verfügbaren, erneuerbaren Energien und liefert Strom, um Schwankungen bei Angebot und Nachfrage auszugleichen – wie im obigen Szenario beschrieben. Derzeit werden die Gasmotoren mit Erdgas, Biogas, synthetischem Methan oder Wasserstoffgemischen betrieben. Der Verbrennungsvorgang wird kontinuierlich weiterentwickelt, um eine Verbrennung von 100 % Wasserstoff und anderen zukünftigen Kraftstoffen zu ermöglichen.

Klimaneutrale Brennstoffe aus überschüssiger Energie

Dies wird das ultimative Ziel nachhaltiger Energiewirtschaft ermöglichen: geschlossene Kreislaufsysteme mit 100 % erneuerbarer Energie. Die zukünftige Kraftstoffproduktion erfordert eine große Menge Elektrizität, was wiederum ein großes Problem der Energieversorger löst. Sie müssten dann nicht länger für die „Drosselung“ der erzeugten Energie zu Zeiten zuzahlen, in denen die Netze voll ausgelastet sind. Durch die Kopplung eines hohen Anteils an erneuerbaren Energien mit Elektrolyseuren, die die überschüssige Energie absorbieren, können die Versorgungsunternehmen die Energieproduktion maximieren und neue Einnahmequellen schaffen: Indem sie mit der überschüssigen Energie klimaneutrale Brennstoffe produzieren. Diese CO2-neutralen Brennstoffe können dann zur Stromerzeugung in Motoren verbrannt oder zur Dekarbonisierung anderer Sektoren verwendet werden.

Erneuerbare-Energien-Zukunft in greifbarer Nähe

Was ist also die Quintessenz aus all diesen Erkenntnissen? Eine erneuerbare Zukunft für Deutschland und 144 weitere Länder ist in greifbarer Nähe. Während Batteriespeicher einen Ruf als das Zugpferd der Energiesysteme erlangt haben, zeigen die dargestellten Berechnungen und Erfahrungen in Ländern auf der ganzen Welt, dass Flexibilität mitentscheidend ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer Kombination der Komponenten – einschließlich flexibler Gasmotoren –, um das Netz zuverlässig auszugleichen. Nur wenn wir ein funktionierendes Ökosystem von Technologien entwickeln, können wir erneuerbare Energien zur Grundversorgung nutzen. Wärtsilä hat die Daten, die den Weg dorthin zeigen – und auch die notwendige Technologie. Nun ist die Politik gefragt: Sie muss die rechtlichen Grundlagen, die Finanzierung und die Anreize für den Umstieg bereitstellen. Das ist nicht bloß ethisch notwendig, sondern auch das wirtschaftlich Vernünftigste, was sie tun kann.

Von Björn Ullbro

Björn Ullbro, Vice President Africa & Europe, Wärtsilä Energy Business