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Energieübertragung 13.11.2020, 13:54 Uhr

Mächtiger Strom im zierlichen Kabel

In München fließt elektrische Energie künftig durch einen unterirdischen Hochtemperatur-Supraleiter. Mit zwölf Kilometern Länge ist er Rekordhalter.

Foto: NKT

Foto: NKT

München kann künftig mit einem Weltrekord aufwarten. In der bayrischen Landeshauptstadt wird das weltweit längste supraleitende Kabel zur Energieübertragung verlegt. Es verbindet zwei bisher durch ein konventionelles Kabel verbundene Umspannstationen und ist 12 km lang. Es wird – auch das eine Premiere – bei einer Spannung von 110 000 V betrieben und kann eine Leistung von bis zu 500 MW transportieren. Dabei hat der eigentliche Leiter einen Querschnitt von gerade mal 12 mm mal 75 µm. Einschließlich Ummantelung und Kühlkanal ist das daraus entstehende Kabel nicht dicker als ein Kupferkabel, kann aber bis zu achtmal mehr Strom übertragen. Mit dem Bau dieser Leitung bringt München seine innerstädtische Stromversorgung auf ein neues Qualitäts- und Sicherheitsniveau. Zwei weitere sollen folgen, die eine ganze Reihe von konventionellen Kabeln ersetzen sollen.

Stromstärke fast verdoppelt

Drähte für die Hochtemperatur-Supraleitung: Im innern versteckt sich ein innovatives Design aus vielen Schichten.

Foto: Theva

Die Seele des Kabels haben Ingenieure des Unternehmens Theva aus Ismaning in direkter Nachbarschaft der bayrischen Landeshauptstadt entwickelt. Der Kölner Spezialist NKT hat deren Hochtemperatur-Supraleiter mit Schutzhülle und Kühlkanal umgeben und so zum Kabel geformt, das in die Erde gelegt wird. Den Theva-Ingenieuren ist es gelungen, die Stromstärke, die der zierliche Leiter überträgt, innerhalb von wenigen Jahren auf 1350 A fast zu verdoppeln. Das gelang ihnen, indem sie den keramischen Supraleiter auf die doppelte Dicke anwachsen ließen. Klingt einfach, ist aber kein Selbstläufer. Normalerweise bricht die supraleitende Fähigkeit der Keramik zusammen, wenn eine bestimmte Dicke erreicht ist, weil der durchfließende Strom das innere Gefüge des Supraleiters durcheinanderbringt. Wenn aber die Moleküle der Magnesiumoxidschicht, auf der der Supraleiter emporwächst, nicht senkrecht stehen, sondern einen Winkel von 30 Grad bilden, bleibt der Kristall heil, wenn er weiterwächst, und damit die Supraleitfähigkeit erhalten.

Acht Millionen Kilowattstunden weniger

Pro-Line, wie Theva sein Kabel nennt, besteht aus Gadolinium-Barium-Kupfer-Oxid. Es wird in München pro Jahr bis zu 8 Mio. kWh einsparen, das ist der Jahresverbrauch von 2000 Haushalten. Das ist jedoch nicht der entscheidende Vorteil. Neben der Steigerung der Übertragungsleistung spielt der Tiefbau eine wichtige Rolle. Da das Kabel keine Wärme erzeugt, können die drei Phasen in eine einzigen Hülle integriert werden. Bei Neubauten vor allem in Städten bedeutet das weitaus schmalere Gräben, so dass die Verkehrsbehinderungen erheblich geringer sind.

1983 gab es die erste leitende Keramik

1911 fand der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes heraus, dass Quecksilber bei einer Temperatur wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt Strom ohne Widerstand leitet. Der Effekt ließ sich auch bei anderen Metallen nachweisen. Doch alle gingen erst in den supraleitenden Zustand über, wenn sie mit flüssigem Helium auf eine Temperatur von minus 269 Grad Celsius gekühlt wurden. Heute noch sind die meisten Spulen in großen Teilchenbeschleunigern und Magnetresonanztomographen (MRT) mit solchen Supraleitern ausgestattet.

1983 entdeckten Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller am IBM-Forschungslabor in Rüschlikon bei Zürich eine Keramik, die schon bei der Temperatur von flüssigem Stickstoff supraleitend wurde, also bei minus 196 Grad Celsius. Das senkt den Energieaufwand für die Kühlung ganz entscheidend. Außerdem ist Stickstoff als Hauptbestandteil der Luft weitaus billiger als Helium.

Pro-Line auch für Windgeneratoren

Windgeneratoren der Zukunft sollen ebenfalls mit Hochtemperatur-Supraleitern (HTSL) ausgestattet werden. Der erste im dänischen Thyborøn bestand seinen Test mit Bravour. Er hatte eine Leistung von 3,6 MW. Die verwendeten Kabel benötigten allerdings eine Temperatur von minus 240 Grad Celsius. Bei dem EU-Projekt EcoSwing ging es allerdings auch noch nicht um eine wirtschaftliche Lösung, sondern um den Nachweis, dass ein solcherart ausgestatteter Generator in der Gondel einer Windenergieanlage zuverlässig arbeitet. Attraktiv ist die HTSL für diese Art der Stromerzeugung, weil der Generator erheblich kleiner und leichter sein kann als ein konventioneller. Die Gondel kann dann entsprechend verkleinert werden und der Mast schlanker ausfallen. Beides kann dann zu massiven Kosteneinsparungen führen.

Von Wolfgang Kempkens