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Kernenergie 13.04.2023, 10:40 Uhr

Deutschlands Nachbarn rüsten auf

Vor allem die Niederlande, lange Zeit abstinent, sehen ohne Kernenergie keine Möglichkeit, die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Zwei Groß- und mehrere Kleinreaktoren sind in der Planung.

Die malerische Provinzhauptstadt Maastricht mit ihrer rund 800 Jahre alten Sint-Servaasbrug (St. Servatius-Brücke) soll Nachbar landeseigener Kernkraftwerke werden. Foto: PantherMedia/dutchscenery

Die malerische Provinzhauptstadt Maastricht mit ihrer rund 800 Jahre alten Sint-Servaasbrug (St. Servatius-Brücke) soll Nachbar landeseigener Kernkraftwerke werden.

Foto: PantherMedia/dutchscenery

Während Deutschland seine drei letzten Kernkraftwerke an diesem Samstag stilllegt, entstehen in den Nachbarländern neue Anlagen oder bestehende werden länger betrieben als ursprünglich geplant. In Ungarn und Rumänien sind die Planungen für Neubauten bereits höchst konkret, Frankreich wird seine Anlage in Flamanville in diesem Jahr in Betrieb nehmen. Polen will Kernkraftwerke bauen, Italien, lange Zeit abstinent, denkt ebenfalls daran, ebenso die Niederlande. In dem Land, das einst eigentlich aussteigen wollte, sind bereits zwei Anlagen mit einer Leistung von mehr als 3 GW am Standort des Uralt-Kernkraftwerks Borssele bei Vlissingen geplant, deren Bau bereits 2028 beginnen und 2035 abgeschlossen sein soll. 5 Mrd. € sollen dafür in naher Zukunft bereitgestellt werden, die ein Viertel der Baukosten decken sollen, was vermutlich zu optimistisch gedacht ist. Das solle ein Beitrag sein, um den „Kampf gegen die Erwärmung der Erde zu gewinnen.“ So steht es im Koalitionsvertrag der amtierenden niederländischen Regierung.

Abgeschnitten vom Windstrom an der Küste

Der an Deutschland angrenzenden niederländischen Provinz Limburg mit der Hauptstadt Maastricht im Südwesten des Landes ist das zu wenig. Die stark industrialisierte Region fürchtet Stromausfälle, weil, ähnlich wie in Bayern, die Zentren der Windenergieerzeugung weit entfernt sind und der Bau von Stromleitungen nicht schnell genug vorankommt.

Deshalb sollen im einstigen Kohlerevier Kernkraftwerke die Versorgung unterstützen. Für 1 600-MW-Anlagen wie in Flamanville ist dort allerdings kein Platz, wohl aber für kleinere Kernkraftwerke mit Leistungen zwischen etwa 50 und 50  MW, die in der Nähe von großen Verbrauchern erreichtet werden sollen, um Leitungen einzusparen.

Verdreifachung des Stromverbrauchs

Die Provinz geht davon aus, dass sich der Stromverbrauch in der Region mit rund 1,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern bis 2030 verdreifacht. „Wir wollen weg von fossilen Energieträgern“, verlautet es von dem für Energie und Klima zuständigen Provinz-Kommissar MaartenGaans-Gijbels. „Bei der Suche nach einem neuen Energiemix hat die Kernenergie einen festen Platz.“

„Relativ gute CO2-Bilanz“

„Atomkraft hat eine relativ gute CO2-Bilanz“, sagt Christoph Pistner vom Öko-Institut in Freiburg. Trotzdem hält er sie nicht für „eine zukunftsfähige Klimaschutztechnologie“, in erster Linie wegen der Restrisiken und der Notwendigkeit, den Atommüll für viele Jahrtausende sicher gegen die Umwelt abzuschirmen, wenn er nicht mit technischen Mitteln entschärft wird. In den Niederlanden gibt es dagegen, anders als bis in die 1990er-Jahre hinein, kaum Widerstand gegen die Renaissance der Kernenergie.

China setzt auf deutsches Reaktorprinzip

Die Niederlande setzen auf Small Modular Reactors (SMR), also kleine Reaktoren, die einzeln oder modular zu größeren Anlagen an einem Standort errichtet werden sollen. Vor allem in den USA werden SMR entwickelt. China baut sie bereits in Serie. In Shidaowan in der ostchinesischen Provinz Shandong sind bereits zwei 105-MW-Anlagen in Betrieb, die nach dem Bauprinzip des im einstigen Kernforschungszentrums Jülich (heute Forschungszentrum Jülich) entwickelten Kugelhaufenreaktors erstellt wurden.

Neues Standbein für Rolls-Royce?

Gute Chancen, in den Niederlanden gebaut zu werden, hat ein Druckwasserreaktor des britischen Herstellers Rolls-Royce mit einer Leistung von 470 MW. Die Einzelteile des Reaktors werden zentral produziert, per Lkw oder Bahn transportiert und auf der Baustelle lediglich zusammengefügt. Das soll die Kosten und die Bauzeit massiv verkürzen. Noch in diesem Jahr wird die Zulassung der britischen Genehmigungsbehörden erwartet. In fünf Jahren soll der erste Block in Betrieb gehen, was wohl höchst ehrgeizig ist. „Voygr 12“, entwickelt vom US-Start-up NuScale Power in Corvallis im Bundesstaat Oregon, soll sogar komplett in einer Fabrik gebaut und dann zum Standort transportiert werden. Der Block hat eine Leistung von 77 MW.

Greenpeace hat schwere Bedenken

All diese Neuentwicklungen sind mit zusätzlichen Sicherheitssystemen ausgestattet, die die Auswirkungen von Störfällen und Unfällen begrenzen, sodass das Risiko von Katastrophen wie in Fukushima extrem gering ist. Die Umweltorganisation Greenpeace ist da ganz anderer Meinung: „Neben der nicht zu gewährleistenden Sicherheit der Atomtechnik und der kaum kontrollierbaren Verbreitung von atomwaffenfähigem Material steht das dritte große Problem der Atomenergie: der Atommüll, der zwangsläufig beim Betrieb eines Atomkraftwerks entsteht. Hätten die ersten Menschen auf dem europäischen Kontinent Atomkraftwerke gehabt, wir müssten ihren Müll heute immer noch sicher von der Umwelt abschirmen.“

Von Wolfgang Kempkens