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Sanierungsstau 03.06.2025, 13:00 Uhr

Warum viele Brücken an ihre Grenzen stoßen

In der Diskussion um die Sanierungsbedürftigkeit zahlreicher Verkehrsbrücken wird häufig die Frage nach der Qualität älterer Baustoffe aufgeworfen. Dabei geraten insbesondere Brücken aus den 1960er-Jahren, die heute verstärkt unter Rissbildungen und Schäden leiden, in den Fokus. Eine differenzierte Betrachtung zeigt jedoch: Nicht der verwendete Stahl ist das Problem, sondern veränderte Rahmenbedingungen und gestiegene Verkehrsbelastungen.

Viele Brücken in Deutschland weisen Ermüdungsschäden auf. Eine Sanierung ist unumgänglich. Foto: bauforumstahl

Viele Brücken in Deutschland weisen Ermüdungsschäden auf. Eine Sanierung ist unumgänglich.

Foto: bauforumstahl

Wie der Spitzenverband des deutschen Stahlbaus bauforumstahl mitteilt, kam in dieser Zeit bei Brückenbauwerken häufig die Stahlgüte ST52 zum Einsatz. Dabei handele es sich allerdings nicht um ein „minderwertiges Material“, sondern um einen für die damalige Zeit hochqualitativen Baustoff. Aus technischer Sicht sei ST52 auch heute noch leistungsfähig.

Vergangenheit trifft Verkehr von heute

Die Ursachen für die heutigen Schadensbilder liegen vielmehr in einem Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren: In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Verkehrsaufkommen vervielfacht. Gleichzeitig wurden die Lastannahmen mehrfach angepasst, der Schwerverkehr hat zugenommen, Containertransporte und Just-in-time-Logistik prägen den Straßenverkehr. Diese Entwicklungen führen dazu, dass viele Brücken heute mit Beanspruchungen konfrontiert sind, die beim Bau weder vorhersehbar noch vorgesehen waren.

Als viele der heute von Sanierungen betroffenen Brücken errichtet wurden – beispielsweise in den frühen 1960er-Jahren – galten noch die Bemessungsgrundlagen der DIN 1072 (Ausgabe 1952). Ein Sattelschlepper durfte damals maximal 24 t wiegen. Selbst mit der Anhebung auf 38 t im Jahr 1967 rechneten Ingenieurinnen und Ingenieure oft nur mit einer Spitzenlast von 60 t. Gleichzeitig war das Verkehrsaufkommen deutlich geringer als heute. Der Güterverkehr fand überwiegend auf der Schiene statt, und Containertransporte waren noch nicht etabliert.

Materialsparende Bauweisen dominierten

Hinzu kommt: Baustahl war in den 1960er-Jahren ein vergleichsweise teures Gut, während Arbeitskraft günstig war. Konstruktionen wurden deshalb nach dem ökonomischen Minimalprinzip ausgeführt: materialeffizient und mit hoher handwerklicher Präzision. So erklärt sich auch die für damalige Verhältnisse schlanke Bauweise vieler Brücken: Stahlbrücken kamen mit etwa 300 kg/m2 Stahl aus. Heute liegt dieser Wert bei rund 850 kg/m2 – ein Indikator für die deutlich höheren Anforderungen an moderne Tragwerke.

Normen waren noch nicht so ausgefeilt

Auch das technische Wissen über Dauerfestigkeit und Ermüdungsverhalten war zur damaligen Zeit noch im Aufbau. Details, die aus heutiger Sicht als besonders ermüdungsgefährdet gelten, wurden damals nicht speziell behandelt, da entsprechende Normen noch nicht existierten. Viele Schäden treten deshalb an konstruktiv besonders beanspruchten Stellen auf – nicht im Grundwerkstoff selbst.

Stahl bleibt zukunftsfähig

Stahl als Baustoff hat sich im Brückenbau über Jahrzehnte bewährt. Er ist kontrollierbar, anpassbar und – im Gegensatz zu vielen anderen Materialien – besonders gut für Sanierungen geeignet. Durch Monitoring, Verstärkungsmaßnahmen oder Austausch lassen sich bestehende Konstruktionen auch nach Jahrzehnten noch an neue Anforderungen anpassen. Zudem bietet Stahl Vorteile im Hinblick auf Rezyklierbarkeit und zirkuläres Bauen, zentrale Aspekte für die nachhaltige Infrastrukturplanung der Zukunft.

Sanierungen ingenieurtechnisch gestalten

Die anstehende Sanierungswelle ist daher weniger ein Zeichen mangelhafter Baustoffe als vielmehr ein systemischer Effekt: Die betroffenen Brücken erreichen oder überschreiten ihre ursprünglich vorgesehene Lebensdauer unter deutlich veränderten äußeren Rahmenbedingungen. Die Herausforderung besteht nun darin, diesen Übergang ingenieurtechnisch zu gestalten, mit gezielten Investitionen in Instandhaltung, Überwachung und vorausschauende Planung.

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Dipl.-Ing. Günther Dorrer ist Vorsitzender der Fachgemeinschaft Brückenbau im bauforumstahl e. V./DSTV Deutscher Stahlbauverband.
Foto: bauforumstahl