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+++Anzeige+++ 05.05.2025, 10:00 Uhr

Erdbebensichere Versuchshalle in Massivholzbauweise: Modellfabrik Papier

Im Innovationsquartier Düren (IQD) entsteht mit der Modellfabrik Papier ein regional vernetztes Reallabor für die Papierindustrie. Sie umfasst zwei Gebäude: Das Servicegebäude mit Büro- und Laborflächen in Stahlbetonbauweise sowie die erdbebensichere Holzhalle für großformatige Versuchsaufbauten, das sogenannte Technikum.

Foto: Zwei Gebäudeteile bilden die Modellfabrik Papier. Copyright: HPP Architekten

Foto: Zwei Gebäudeteile bilden die Modellfabrik Papier. Copyright: HPP Architekten

Mit dem Innovationsquartier Düren (IQD) soll Raum für eine nachhaltige und innovative öffentliche  Infrastruktur geschaffen sowie der Nukleus des IQD als neues Stadtviertel mit rund 115 000 Quadratmetern am Dürener Bahnhof gebildet werden. Das für die regionale Entwicklungsagentur Rheinisches Revier bedeutsame Ankerprojekt wird von Bund und Land über Strukturwandelgelder in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Netzwerk und Transfer sowie Planen und Bauen mit insgesamt rund 80 Millionen Euro gefördert. Als Teil des IQD entsteht mit der Modellfabrik Papier ein in Düren beheimatetes, regional vernetztes Reallabor für die Papierindustrie, das zur Entwicklung einer industriellen Wertschöpfungskette der nachhaltigen Papierproduktion beitragen soll. Die Modellfabrik Papier besteht aus zwei Gebäudeteilen: einem Servicegebäude mit Büro- und Laborflächen und einer Brutto-Grundfläche von 2 850 Quadratmetern sowie dem sogenannten Technikum, einem Hallenbauwerk mit ausreichend Platz für großformatige Versuchsaufbauten. Die Brutto-Grundfläche für den Hallenbau umfasst circa 3 620 Quadratmeter. Bauherr ist die städtische Entwicklungsgesellschaft der IQ.DN GmbH. Betreiber des Gebäudes wird die Forschungsgesellschaft Modellfabrik Papier gGmbH.

Erdbebensicher und prägnant: das Hallentragwerk

Während das Tragwerk des Servicegebäudes einem Verwaltungsgebäude gerecht werdend – als klassische Stahlbeton-Skelettkonstruktion entworfen wurde, hebt sich das Technikum durch die gefaltete Massivholzstruktur der oberirdischen Geschosse von etablierten Hallenbauten ab und spiegelt so den innovativen Charakter der Modellfabrik Papier bereits im Tragwerk wider. Der Holzbau, der im erdberührten Bereich auf einem technisch hochinstallierten Massivbau steht, bleibt gemäß den architektonischen Vorgaben von HPP Architekten auf der Innenseite der Halle vollständig sichtbar, was die gestalterischen Ansprüche an den Entwurf des Hallentragwerks deutlich erhöht. In Kombination mit der großen, horizontalen Beanspruchung aus Erdbeben, stellt das Technikum der Modellfabrik Papier ein statisch hochspannendes Gebäude dar. Denn auch wenn Deutschland im europäischen Vergleich als Schwachbebengebiet gilt und im Gegensatz zu anderen Ländern nur äußerst selten von schädigenden Erdbebenereignissen betroffen ist, ist der Lastfall „Erdbeben“ in einigen Regionen Deutschlands bemessungsrelevant für die aussteifenden Bauteile und demzufolge maßgebend für den statischen Entwurf.

Foto: Beispielhafte Detailabbildung / Explosionszeichnung der statischen Anschlussdetails. Copyright: Schüßler-Plan

Foto: Beispielhafte Detailabbildung / Explosionszeichnung der statischen Anschlussdetails. Copyright: Schüßler-Plan

So auch in Düren, wo 1756 eines der größten, jemals in Deutschland aufgezeichneten Erdbeben auftrat. Gemäß DIN 4149:2005 liegt das Baufeld in der Erdbebenzone 3. Nach DIN EN 1998–1/ NA:2023–11 ist am Standort eine Spektralbeschleunigung von SaP,R = 2,70 m/s² anzusetzen. Zum Vergleich: dies entspricht dem 4,5-fachen des Grenzwertes (SaP,R = 0,60 m/s², ungefährer Übergang zur Erdbebenzone 0 in DIN 4149), unterhalb dem der Lastfall Erdbeben im Allgemeinen entfallen kann. Für das Technikum verschärfen sich die Anforderungen an den Erdbebennachweis durch den für ein Hallenbauwerk typischen Grund- und Aufriss: Zum einen sind im Sinne der flexiblen Flächennutzung lediglich die Außenwände der Halle als tragende, aussteifende Bauteile vorgesehen. Durch die Länge der Halle von circa 63,5 Metern ergibt sich somit eine große Spannweite für die Deckenscheibe, resultierend in großen Scheibenzug- und Scheiben-Schubkräften. Zum anderen befindet sich der Großteil der Gebäudemasse auf dem Hallendach, in Form von schweren Technikgeräten und einer Extensivbegrünung mit einem Flächengewicht von 425 Kilogramm pro Quadratmeter. Diese Masse wird im Erdbebenfall angeregt, wodurch große Einspannmomente am Fuße der aussteifenden Wände entstehen, die in den unterirdischen Massivbau zu übertragen sind.

Zur Untersuchung des Systemverhaltens unter dynamischen Beanspruchungen und zur Ermittlung der Elementschnittgrößen und der Krafteinwirkung auf die Anschlussdetails wurde daher bereits in der Entwurfsplanung ein räumliches FE-Modell entwickelt. Um den Einfluss sämtlicher Verbindungsmittel auf die räumliche Steifigkeit des Gebäudes abbilden zu können, wurden diese mit entsprechenden Federsteifigkeiten modelliert. Unter Anwendung des Antwortspektrenverfahrens konnte so die Reaktion des Gebäudes auf Erdbebeneinwirkungen wirklichkeitsnah simuliert und somit ein statisch optimiertes Tragwerk entworfen werden.

Im gesamten Planungsteam wurde auch ein besonderes Augenmerk auf die Ausbildung der statischen Anschlussdetails zwischen den Holzbauteilen und im Anschluss an den Massivbau gelegt. Die Details wurden in den frühen Leistungsphasen entwickelt und bereits in der Entwurfsplanung geplant. Somit konnte sichergestellt werden, dass die gestalterischen Ansprüche an das prägnante Technikum auch in der Ausführung respektiert werden können.

Die hinsichtlich einer erdbebensicheren Bauweise einschneidendste Maßnahme wurde bereits im architektonischen Wettbewerb durch HPP Architekten unumstößlich identifiziert: Die gefaltete Struktur der 29 Zentimeter schlanken Längswände aus Brettsperrholz verleiht diesen bei kreuzweiser Verschraubung der einzelnen Elemente geometriebedingt bereits eine hohe Biegesteifigkeit. Wären die Außenwände als gradlinige Schalen ohne Faltungen geplant worden, hätten sie eine Stärke von rund 53 Zentimetern aufweisen müssen, um eine äquivalente Biegesteifigkeit zu erreichen. Auch wenn die gefaltete Struktur die Abbundlänge der Wände von 63,5 Metern auf 75 Meter verlängert, wird durch die steifigkeitsbedingte Querschnittsreduktion etwa 35 Prozent Holzvolumen eingespart – bei identischen statischen Kennwerten. Die Längswände des Technikums wirken somit als ressourcenoptimierter, eingespannter Kragarm. Im Ergebnis werden mehr als 50 Prozent der in Hallenquerrichtung wirkenden Erdbebenkräfte über die gefalteten Außenwände abgetragen. Dieser Effekt wirkt sich äußert positiv, sowohl für die statischen Nachweise der Dachscheibe als auch für die Bemessung der aussteifenden Wände an den Giebelseiten der Halle aus.

Die Detailausbildung der Dachscheibe ist infolge der Elementbauweise gleichwohl detailliert zu planen. Zwischen den druckkraftübertragenden Brettschichtholzdeckenelementen mit einer Höhe von 18 Zentimetern werden mittels kreuzweise angeordneter Vollgewindeschrauben Zugstreben ausgebildet. Das Scheibenfachwerk wird durch ein umlaufendes, oberseitig auf die Deckenelemente aufgenageltes Stahlblech, welches wie ein Ringbalken fungiert, redundant ausgebildet.

Für die aussteifenden Wände der Giebelseiten galt es, die aus der Fassadenansicht resultierende Aufteilung an opaken und transparenten Flächen zu garantieren. Das hohe Maß an transparenten Flächen erforderte eine bereichsweise Abkehr vom Grundsatz des vollständigen Holzbaus: An den Enden der Giebelwände werden jeweils zwei Wandscheiben in Stahlbeton ausgeführt und über filigrane Baustahlprofile miteinander gekoppelt. Auch wenn eine Holzkonstruktion unter statischen Gesichtspunkten umsetzbar gewesen wäre, hätten die zur Aussteifung der Halle notwendigen Querschnittsabmessungen die Tageslichtsituation im Inneren der langen Halle in größerem Maße beeinträchtigt.

Für die Verankerung der Brettsperrholzelemente im Stahlbetonsockel wurde besonderer  Fokus  auf  eine  möglichst praktikable Bauausführung gelegt. Die Schub- und Zugkräfte aus Wind- und Erdbebenbelastung werden zum überwiegenden Teil über nachträglich aufgedübelte und ausgenagelte Stahlverbinder übertragen. Durch ihre Lage an den Wandaußenseiten, sind die Stahlbauteile sowohl optisch durch die Fassade als auch brandschutztechnisch durch das Konstruktionsholz abgedeckt. Aufgrund der geringen Tragfähigkeit von gedübelten Anschlüssen unter seismischen Beanspruchungen wurden für die besonders hoch belasteten Wandbereiche Sonderlösungen entwickelt, um die Anschlusskräfte sicher in den Massivbau einleiten zu können. Die abhebenden Zugkräfte an den Wandenden wurden über innenliegende Schlitzbleche und entsprechend schubbeanspruchte Verbindungsmittel aufgenommen. Die Schlitzbleche sind wiederum als starre Einbauteile in der Stahlbetonkonstruktion verankert. Zur Aufnahme der zugehörig hohen Horizontallasten in diesen Wandelementen wurden Schubknaggen aus Stahlbeton ausgebildet. Diese Art von verzahntem Anschluss ermöglicht mit geringem baulichem Aufwand eine vielfach höhere Tragfähigkeit als ein vergleichbarer Dübelanschluss.

Foto: Die gefaltete Struktur der Hallenkonstruktion verleiht dem Holzbau eine hohe Biegesteifigkeit. Copyright: HPP Architekten

Foto: Die gefaltete Struktur der Hallenkonstruktion verleiht dem Holzbau eine hohe Biegesteifigkeit. Copyright: HPP Architekten

Fazit

Die Technikumshalle der Modellfabrik Papier verbindet statische Komplexität mit bautechnischem Pragmatismus. Durch seine vorteilhaft gefaltete Struktur lässt sich der gewünschte Kraftfluss im Tragwerk durch einfache Verbindungstechniken gewährleisten und nachweisen. Im Ergebnis stellt das Tragwerk einen ressourcenschonenden, ökologisch nachhaltigen und vor allem erdbebensicheren Holzbau unter anspruchsvollen Randbedingungen und zugleich hohen optischen Ansprüchen dar.

Von Schüßler-Plan Ingenieurgesellschaft

Leroy Zimmermann (Teamleiter Hochbau, Schüßler-Plan) und Lukas Felber (Projektleiter Hochbau, Schüßler-Plan)