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Reaktionsfähige Gebäudehüllen 01.12.2025, 08:00 Uhr

Adaptive Fassaden im Fokus

Wie können Gebäude ihren Energieverbrauch selbstständig reduzieren? Ein neues DFG-Graduiertenkolleg der Universitäten Stuttgart und Freiburg erforscht smarte, bio-inspirierte Materialien, die Fassaden ermöglichen, sich automatisch an Wetter und Licht anzupassen – ganz ohne aufwendige Technik.

Das adaptiv reagierende Verschattungssystem „FlectoLine“ zeigt, wie natürliche Prinzipien in innovative Gebäudehüllen übertragen werden können. Foto: itke / ITFT / Universität Stuttgart

Das adaptiv reagierende Verschattungssystem „FlectoLine“ zeigt, wie natürliche Prinzipien in innovative Gebäudehüllen übertragen werden können.

Foto: itke / ITFT / Universität Stuttgart

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert ein neues Graduiertenkolleg der Universitäten Stuttgart und Freiburg mit insgesamt 7,1 Millionen Euro. Unter dem Titel „GRK 3123 BioBuild – Bio-inspired Materials and Systems for Responsive Building Components“ wird in den kommenden Jahren intensiv an der Frage geforscht, wie Gebäudehüllen intelligenter, ressourcenschonender und energieeffizienter gestaltet werden können.

Im Mittelpunkt steht ein Ziel, das angesichts steigender Energiepreise und ambitionierter Klimaschutzziele wichtiger ist denn je: Gebäude sollen möglichst ohne zusätzlichen technischen Aufwand auf wechselnde Umweltbedingungen reagieren und damit ihren Energieverbrauch reduzieren.

Reaktionsfähige Gebäudehüllen: Architektur, die mit dem Klima arbeitet

Klassische Verschattungssysteme wie Jalousien oder Lamellen sind bislang häufig starr. Sie bewegen sich entlang festgelegter Achsen, benötigen Motoren, Sensoren oder digitale Steuerungssysteme – und bleiben dennoch oft suboptimal ausgerichtet.

Das Graduiertenkolleg setzt hier an und verfolgt einen völlig neuen Ansatz: reaktionsfähige Gebäudehüllen, die sich dynamisch an Temperatur, Licht und Feuchtigkeit anpassen. Dabei entsteht ein Fassadensystem, das nicht mehr auf externe Steuerung angewiesen ist, sondern mithilfe neuartiger Mechanismen und Materialien autonom reagiert.

„Ziel ist es, die Leistung bioinspirierter, reaktionsfähiger Gebäudehüllen mithilfe neuer Materialsysteme weiter zu verbessern“, erklärt Prof. Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (itke) der Universität Stuttgart. Kernidee ist die Entwicklung nachgiebiger Mechanismen, die durch elastische Verformung ihre Form verändern können. So werden Bauteile möglich, die sich flexibel krümmen, öffnen, schließen oder falten – abhängig von Wetter- und Lichtverhältnissen.

Der Schlüssel liegt im Material: Responsiv statt mechanisch

Während heutige Fassadensysteme meist auf Stahl, Aluminium oder komplexe Motorik setzen, arbeitet „BioBuild“ mit responsiven Materialien. Diese ändern ihre Form selbstständig als Reaktion auf äußere Einflüsse wie Feuchtigkeit, Temperatur oder Licht.

„Wir setzen zudem auf neue Materialsysteme“, sagt Prof. Jürgen Rühe vom Institut für Mikrosystemtechnik (IMTEK) der Universität Freiburg. „Sogenannte responsive Materialien verändern ihre Form als Reaktion auf äußere Einflüsse selbstständig. Der Einsatz dieser Materialien in reaktionsfähigen Gebäudehüllen macht aufwendige Steuerungstechnik teils überflüssig und reduziert den Energiebedarf, die Fertigungskosten und den Wartungsaufwand.“

Das reduziert nicht nur den Energiebedarf im Gebäudebetrieb, sondern auch Herstellungs- und Wartungskosten. Gleichzeitig eröffnet die Technologie neue Gestaltungsspielräume in der Architektur – von fluiden Verschattungssystemen bis hin zu intelligenten Oberflächen, die je nach Situation abdunkeln, reflektieren oder belüften.

Vorbild Natur: Kiefernzapfen als Blaupause

Das Forschungskolleg orientiert sich dabei konsequent an natürlichen Vorbildern. Besonders eindrucksvoll: Kiefernzapfen, deren Schuppen sich je nach Feuchtigkeit vollständig ohne Energiezufuhr öffnen oder schließen.

Diese Bewegungsprinzipien dienen als Modell für adaptive Bauteile der Zukunft. Ziel ist es, Materialien und Strukturen zu entwickeln, die:

  • extrem flexibel sind,
  • vollständig ohne Energieaufwand funktionieren,
  • robust und langlebig bleiben,
  • sich nachhaltig herstellen lassen.

Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich nicht nur auf Architektur, sondern auch auf Bereiche wie Luft- und Raumfahrt, Automobilbau oder industrielle Fertigung übertragen.

Interdisziplinäre Forschung als Erfolgsfaktor

Das Graduiertenkolleg ist mit seinen 20 Promovierenden bewusst interdisziplinär aufgestellt. Architektur, Ingenieurwesen, Materialwissenschaften, Mikrosystemtechnik und Biomimetik greifen eng ineinander.

Ein strukturiertes Qualifizierungsprogramm vermittelt nicht nur fachliche Expertise, sondern auch Kompetenzen für interdisziplinäre Kommunikation – eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung innovativer, bio-inspirierter Systeme.

Das Kolleg knüpft an langjährige Kooperationen der Universitäten Stuttgart und Freiburg an und vereint die Stärken zweier Exzellenzcluster:

  • IntCDC der Universität Stuttgart für computerbasiertes Planen und Bauen
  • livMatS der Universität Freiburg für adaptive und energieautonome Materialsysteme

Bereits bestehende demonstrative Systeme wie FlectoLine oder Solar Gate zeigen, dass die Partner über ein starkes Fundament verfügen und adaptive Fassadenlösungen erfolgreich in realen Umgebungen testen können.

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Von Universität Stuttgart / Heike van Ooyen